Besprechung für Verzauberte Vorbestimmung
Man kommt viel herum im Roman „Verzauberte Vorbestimmung“ von Jonas Lüscher. Er beginnt in Algerien und im Flandern des ersten Weltkriegs, die Handlung verlagert sich nach Südfrankreich, um in der Folge lange im niederböhmischen Varnsdorf nahe der deutsch-tschechischen Grenze zu verweilen. Ein großer Teil des Romans spielt aber in Ägypten, erst in und bei Kairo, dann auch in Luxor und Assuan. Neben einer Episode in Japan findet sich die Leserschaft gelegentlich in München wieder (wo, was kein Zufall ist, sowohl der Erzähler im Roman als auch der Autor des Romans ihren Wohnort haben). Ein kleiner Abstecher an den Brienzersee ist auch dabei – dies allerdings nur, weil der Erzähler seinem Vater versprochen hatte, beim Bau eines Geräteschuppens behilflich zu sein.
Die örtliche Vielfalt findet ihre Fortsetzung in der zeitlichen Dimension, wo Gegenwart, Vergangenheit, noch weiter zurückliegende Vergangenheit und die Zukunft einander abwechseln.
Es scheint nicht verfehlt, den Roman auch als Reisebericht zu lesen. Man wandelt auf den Spuren eines Reisenden, der Menschen, Landschaften, die Erzeugnisse der Zivilisation wortreich und detailgetreu in Farben, Formen und Ausgestaltung beschreibt und dabei auch die Verspätung der Deutschen Bahn nicht ausspart.
Aber es ist mehr als ein Reisebericht. Es werden Geschichten erzählt, nicht nur vom Erzähler selbst. Es gibt eine Reihe von erzählenden Romanfiguren, die allerdings nahezu ausschließlich in indirekter Rede und auch nur in den Worten und der Sprache des Erzählers zu Wort kommen.
Da ist etwa der Briefträger Cheval, der im abgelegenen Hauterives in der erweiterten Umgebung von Lyon in mühseliger Kleinarbeit mit selbstgesammelten Steinen über Jahrzehnte das monumentale Palais Idéal errichtet hat, auf dessen Spuren der schwedische Maler, Filmemacher und Schriftsteller Peter Weiss wandelt, und dabei Ginette, die als Kellnerin in Hauterives arbeitet, seine eigene wechselvolle, streckenweise verstörend intime und zuweilen etwas naive Geschichte erzählt.
Der Erzähler wandelt seinerseits auf den Spuren von Peter Weiss, weswegen er sich später auch in das tschechische Varnsdorf begibt, wo der Vater von Weiss eine leitende Stellung in den dortigen Textilfabriken innehatte. Hier scheint er plötzlich leibhaftig in Geschehnisse hineinzugeraten, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zugetragen haben, bei denen sich die dort ansässigen Weber gegen die zunehmende Technisierung ihrer Handwerkskunst zur Wehr setzten (hier nimmt der Autor Anleihen bei den gegen die zunehmende Automatisierung rebellierenden Ludditen aus den Zeiten der Industrialisierung in England, allerdings ohne erklärenden Hinweis für die Leserschaft).
Bemerkenswert ist, dass es dem Erzähler oftmals um eine journalistische Detailtreue zu gehen scheint. Gelegentlich unterbricht er die in indirekter Rede wiedergegebenen Berichte der Figuren, um Dinge klarzustellen oder die Leserschaft über mögliche andere Sichtweisen zu unterrichten. Mit der Zeit drängt sich aber der Eindruck auf, dass es dabei weniger um die getreue Wiedergabe von Inhalten geht, sondern mehr um die Erzählform. Es bringt sich immer wieder eine Instanz in Erinnerung, die klarstellt, dass die erzählende Figur im Roman nicht die alleinige Hüterin der Wahrheit ist.
Überhaupt sind die Verschachtelungen auf inhaltlicher wie sprachlicher Ebene („meine Reise auf den Spuren des Schriftstellers auf den Spuren des Briefträgers“) charakteristisch. Der Autor spielt gelegentlich mit den Ebenen und lässt die Leserschaft zuweilen im Unklaren, wer gerade spricht und in welcher Ebene sich die Handlung gerade vollzieht.
Die Erzählstimme, die sich immer klarer als der Autor selbst zu erkennen gibt, ist sparsam mit motivierenden Erläuterungen. Warum genau reist er in das abgelegene Hauterives auf den Spuren von Peter Weiss? Oder nach Varnsdorf zu den Textilfabriken? Oder nach Kairo, Luxor und Assuan? Ist er auf Recherchereise? Wonach sucht er?
Im Verlauf erhärtet sich der Verdacht, dass er es selbst nicht genau weiß. Es sieht nicht so aus, als würden seine Reisen einem Plan folgen. Dies gilt insbesondere für die letzte im Roman beschriebene Reise nach Ägypten, die den größten Raum einnimmt. Er wollte eigentlich nach Lagos reisen, wo er immer schon hinwollte, aber nach seiner schweren Covid-Erkrankung wollte sich seine Frau nicht wieder solche Sorgen machen müssen – dann sei es wenigstens Kairo geworden, wo er ohnehin dringend wieder Freunde besuchen wollte.
Auf dieser Reise in den Nahen Osten öffnet sich der Autor weiter, indem er, als er sich durch die neu errichtete, ultramoderne Stadt Pharao City östlich von Kairo kutschieren lässt, unvermittelt von seiner schweren Covid-Erkrankung und seinem siebenwöchigen Koma berichtet, in dem er durch diverse Maschinen am Leben erhalten wurde. Die Beschreibung der komatösen Phasen, der Träume und Albträume, der ineinanderfließenden Bewusstseinszustände gerät eindrücklich. Man fühlt mit dem Autor mit, wie einschneidend dieser Grenzzustand zwischen Leben und Tod sein muss.
Das Buch hat etwas Suchendes, etwas Sehnsüchtiges. Jemand, der mit vielem im Leben und mit dem Leben an sich hadert, so sehr, dass er in aller Ausführlichkeit von Planung und Ausführung des eigenen Selbstmords berichtet, scheint auf der Suche nach dem Schönen, Hoffnungsvollen, nach dem gegenseitigen Verstehen ohne Worte, nach Liebe. Er berauscht sich in seiner dystopischen Zukunftsvision an der schönen Tari und an der Liebe zwischen ihr und der Androidin Kate. Er ergeht sich in der romantisierenden Vorstellung, dass der aufrührerische Weber aus dem 19. Jahrhundert voller Scham seinen jugendlichen Feind aufsucht, den Sohn des Schmieds, den er gestern noch geohrfeigt hatte, weil er mit der herrschenden Schicht kollaboriert, um sich zu entschuldigen. Er glaubte nämlich an dessen mitleidigem Blick erkannt zu haben, dass dieser über ein Wissen verfüge, das er, der „des Lesens und Schreibens mächtige“ Weber, nicht hat, an dem er aber gern teilhaben würde.
So, wie der Erzähler in die altägyptische Lehre vom Menschen als ein aus Gliedern zusammengesetztem „Aggregat“ eintaucht und das eigene Leben durch dieses Prisma betrachtet, so scheint auch der Roman ein Aggregat aus Fragmenten zu sein, die durch ein loses Band zusammengehalten werden. Dieses Band besteht aus gesellschaftlichen Umbrüchen und Verwerfungen, die einhergehen mit Entwicklung und Fortschritt, Automatisierung und Technisierung – seien es die Dampfmaschine, die Textilfabrik, ein Atomkraftwerk, die lebenserhaltenden Maschinen im Spital oder androide Wesen in der Zukunft. Gemeinsam ist ihn allen, dass sie geradezu unvermeidlich ganze Teile von Gesellschaften auf die Verliererstraße zu katapultieren scheinen. Der Leserschaft wird nebenbei eine geradezu überbordende Detailfülle aus der Fertigkeit des Webens und zugehörige Gerätschaften, über verschiedenste Hammertypen eines Schmieds, das Handwerk des Drehers oder die Leitprinzipien des Archivierens zuteil.
Man kann kaum umhin, als den Roman als eine große Allegorie auf das Leben und das Sterben zu lesen. Da ist viel Disparates, es gibt zahlreiche Bruchlinien, eine Erzählung wird immer wieder durchsetzt mit anderen Erzählungen, und diese wiederum durch Reflexionen des Erzählers. Es kommt kaum das Gefühl auf, hier würde auch einmal eine Geschichte zu Ende erzählt werden. Es werden verschiedene Stränge angerissen und miteinander verwoben, ohne dass sich ein großer Bogen unmittelbar aufzwingen würde.
Der Autor bedient sich dabei durchgängig einer elaborierten Sprache, die mit ihren vielen, mitunter umständlichen Partizipialkonstruktionen, der seitlangen indirekten Rede mit unzähligen Konjunktiven und ihren ellenlangen Sätzen etwas Gestelztes und Gespreiztes hat. Dabei wirkt es ein wenig entlarvend, wenn der Erzähler konstatiert, die erzählende Romanfigur, deren Rede indirekt wiedergegeben wird, natürlich nicht auf diese Weise hätte formulieren können. Des Weiteren mutet es wenig glaubwürdig an, wenn etwa der „des Lesens und Schreibens Mächtige“ Weber (eine Phrase, die über lange Abschnitte wieder und wieder verwendet wird und so als Namensersatz für die Romanfigur dient) seinen minderjährigen Kindern von Wellen, Pleueln, Nocken und Fliehkraftreglern erzählt. Es hat überhaupt den Anschein, dass es dem Erzähler gelegentlich mehr um die Wirkung seiner Worte geht und es weniger auf inhaltliche Nachvollziehbarkeit oder Stimmigkeit ankommt (an einer Stelle geht es um eine praktizierende Psychotherapeutin, die aufgrund der geschilderten Umstände deutlich älter als 110 Jahre sein müsste).
Der Autor gibt sich über weite Strecken griesgrämig, hat an vielem etwas auszusetzen, formuliert oftmals auf eine etwas übertrieben psychologierende Weise, ergeht sich in Dystopien, die irgendwie etwas beliebig anmuten (interessanterweise offenbart er an einer Stelle, die meisten Vertreterinnen und Vertreter seines Metiers würden albtraumhafte Dystopien abliefern), und einige Reflexionen, etwa über die faktische Unsterblichkeit der Androiden, muss man nicht unbedingt tiefschürfend finden.
Am Ende lässt einen der ungewöhnliche Roman, von dem man durchaus vermuten mag, dass er auch eine therapeutische Funktion für den Autor hat, etwas ratlos zurück.