Die letzte Fahrt des Zaren
Autor:
Jörg Baberowski
Untertitel: Als das alte Russland unterging
Verlag: C.H. Beck
Genre: Sachbuch
Erscheinungsjahr: 2025
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-406-83048-8
Einbandart: gebunden
Seitenzahl: 380
Sprache: Deutsch
Bewertungen
Besprechung
Ein alternativer (Unter-) Titel für dieses Buch wäre gewesen: Bericht aus dem Innenleben einer Revolution. Aus der Retrospektive lesen sich Revolutionen einfach: Partei B löst die zuvor herrschende Partei A an der Macht ab. Auf die beiden russischen Revolutionen 1917 angewandt: Das Zarentum wird erst ersetzt durch die Provisorische Koalitionsregierung, diese wiederum durch das bolschewistische Sowjetregime.
Doch Revolutionen sind ungeheuer komplexe Vorgänge, mit vielen möglichen Ausgängen. Die Phase der Unsicherheit, der Unentschiedenheit, des drohenden Macht-Vakuums, die jeder Revolution innewohnt, geht im Laufe der Zeit gern vergessen. Jörg Baberowski widmet seine Studie dieser Phase der Februar-Revolution 1917; die Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 ist dann nicht viel mehr als eine Randnotiz.
Immer wieder registriert der Autor verpasste Chancen des Zaren und seiner Regierung, vor dem Februar 1917 die Revolution abzuwenden, ohne sich grundsätzlich der Frage zu widmen, warum es 1917, anders als 1905, nicht gelang, den Sturz des Zarentums zu verhindern. Das ist auf die Dauer etwas unbefriedigend, aber dem Konzept des Buches geschuldet, das nah an den Ereignissen bleibt, und nicht auf übergeordnete Analysen aus ist. Im Vorwort heisst es: «Nur in den Erzählungen, die den historischen Menschen sprechen lassen, kann es gelingen, die Phänomene in ihrem Selbstsein zu zeigen. Dieses Buch ist der bescheidene Versuch, bloss in Geschichten zu fassen, was eigentlich einer theoretischen Erörterung bedürfte.»
Vor allem im zweiten Teil des Buches bewährt sich dieses Konzept. Das engmaschige Protokoll der letzten Februar- und der Märztage zeigt Euphorie und Verzweiflung, Totschlag und Verbrüderung, Loyalität und Verrat. Es gibt Momente im schon weit fortgeschrittenen Umsturz, in denen sich die Revolutionäre erst fragen, wie man überhaupt eine Revolution macht: was sind entscheidende Positionen in der Infrastruktur, welche Organisationen und Funktionäre muss man für sich gewinnen, wie und über welche Kanäle kommuniziert man, wie geht man mit internen Grabenkämpfen um?
Die Provisorische Regierung, die ab Februar den Übergang zu einer neuen Regierungsform zu moderieren suchte, sieht sich einer komplexen Ausgangslage gegenüber:
• Russland ist Kriegspartei im 1. Weltkrieg, ein grosser Teil der Truppen ist an der Front gebunden
• Mit dem Arbeiter- und Soldatenrat hat sich eine Art Neben-Regierung gebildet, auf deren Unterstützung die Provisorische Regierung angewiesen ist
• Die Provisorische Regierung ist eine Koalition, deren Parteien unterschiedliche Ziele verfolgen, Liberale, Konservative und später die sozialistischen Menschewiki und die Sozial-Revolutionäre. Führend waren zunächst die (liberalen) Kadetten, die eine konstitutionelle Monarchie anstrebten
• Nach der Abdankung des Zaren Nikolai II. im März entstand ein Macht-Vakuum. Der Provisorischen Regierung fehlt die juristische Legitimation für ihre Aufgaben
• Truppen an der Front galten teilweise als zarentreu, während die Soldaten und Matrosen in und um die Hauptstadt zu den radikalen revolutionären Parteien überliefen, oder sogar den eigentlichen Motor der Revolution bildeten
• Unterschiedliche Geschwindigkeiten: noch war im russischen Riesenreich, diesem Vielvölkerstaat, die Revolution nicht überall angekommen. Für viele Bauern war ein Russland ohne Zar schlicht nicht vorstellbar
Die Konstellation machte es für die Provisorische Regierung schwierig, sich als stabiles Machtzentrum zu etablieren. Der entscheidende Schritt, die Wahl eines neuen Parlaments, zögerte sich immer weiter hinaus, bis die Bolschewiki, im Gegensatz zu ihren Kontrahenten Berufsrevolutionäre, die ihr Handwerk verstanden, in einem Staatsstreich die Macht an sich rissen, nachdem sie zuvor in einer Totalopposition die Provisorische Regierung immer wieder sabotiert hatten.
Grandios sind Baberowskis Schilderungen des Arbeiter- und Soldatenrates, wie sich dieses chaotische Gremium selbst organisierte, und wie es nach endlosen Debatten, bei denen sich jeder Anwesende zu Wort melden konnte, Beschlüsse fasste. Eine Fotografie (Seite 147) vermittelt den Eindruck einer Ratssitzung.
Prominenteste Figur der Provisorischen Regierung war der Sozialrevolutionär Alexander Kerenski, der mit seinen emotionalen Reden, an deren Enden er regelmässig in Ohnmacht fiel, die Zuhörer in Bann zu schlagen vermochte. Aber Kerenski ist mehr Charismatiker als Stratege, und die Wirkung seines rhetorischen Furors verpufft allmählich.
Und Zar Nikolai II.? Er ergibt sich beinah widerstandslos seinem Schicksal. Er fällt falsche Entscheidungen, zeigt sich lange uninteressiert an den Ereignissen in der Hauptstadt, und scheint am Ende froh zu sein, die Bürde der Macht loszuwerden. Er ist ein schwacher letzter Zar, der auch keine Loyalität zu generieren vermag, sicher mit ein Grund, warum es eben nicht gelang, die Revolution 1917 abzuwenden. Nach der Abdankung sind er und seine Familie den Revolutionären ausgeliefert; die Bolschewiki beschliessen dann im Sommer 1918, die Romanows zu liquidieren.
Mehr als 300 Jahre hatte diese Familie das riesige russische Reich regiert. Baberowskis detaillierte Erzählung vom Zusammenbruch der scheinbar gottgegebenen Ordnung und vom revolutionären Aufbruch ermöglicht uns Lesern eine faszinierende Zeitreise.
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Doch Revolutionen sind ungeheuer komplexe Vorgänge, mit vielen möglichen Ausgängen. Die Phase der Unsicherheit, der Unentschiedenheit, des drohenden Macht-Vakuums, die jeder Revolution innewohnt, geht im Laufe der Zeit gern vergessen. Jörg Baberowski widmet seine Studie dieser Phase der Februar-Revolution 1917; die Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 ist dann nicht viel mehr als eine Randnotiz.
Immer wieder registriert der Autor verpasste Chancen des Zaren und seiner Regierung, vor dem Februar 1917 die Revolution abzuwenden, ohne sich grundsätzlich der Frage zu widmen, warum es 1917, anders als 1905, nicht gelang, den Sturz des Zarentums zu verhindern. Das ist auf die Dauer etwas unbefriedigend, aber dem Konzept des Buches geschuldet, das nah an den Ereignissen bleibt, und nicht auf übergeordnete Analysen aus ist. Im Vorwort heisst es: «Nur in den Erzählungen, die den historischen Menschen sprechen lassen, kann es gelingen, die Phänomene in ihrem Selbstsein zu zeigen. Dieses Buch ist der bescheidene Versuch, bloss in Geschichten zu fassen, was eigentlich einer theoretischen Erörterung bedürfte.»
Vor allem im zweiten Teil des Buches bewährt sich dieses Konzept. Das engmaschige Protokoll der letzten Februar- und der Märztage zeigt Euphorie und Verzweiflung, Totschlag und Verbrüderung, Loyalität und Verrat. Es gibt Momente im schon weit fortgeschrittenen Umsturz, in denen sich die Revolutionäre erst fragen, wie man überhaupt eine Revolution macht: was sind entscheidende Positionen in der Infrastruktur, welche Organisationen und Funktionäre muss man für sich gewinnen, wie und über welche Kanäle kommuniziert man, wie geht man mit internen Grabenkämpfen um?
Die Provisorische Regierung, die ab Februar den Übergang zu einer neuen Regierungsform zu moderieren suchte, sieht sich einer komplexen Ausgangslage gegenüber:
• Russland ist Kriegspartei im 1. Weltkrieg, ein grosser Teil der Truppen ist an der Front gebunden
• Mit dem Arbeiter- und Soldatenrat hat sich eine Art Neben-Regierung gebildet, auf deren Unterstützung die Provisorische Regierung angewiesen ist
• Die Provisorische Regierung ist eine Koalition, deren Parteien unterschiedliche Ziele verfolgen, Liberale, Konservative und später die sozialistischen Menschewiki und die Sozial-Revolutionäre. Führend waren zunächst die (liberalen) Kadetten, die eine konstitutionelle Monarchie anstrebten
• Nach der Abdankung des Zaren Nikolai II. im März entstand ein Macht-Vakuum. Der Provisorischen Regierung fehlt die juristische Legitimation für ihre Aufgaben
• Truppen an der Front galten teilweise als zarentreu, während die Soldaten und Matrosen in und um die Hauptstadt zu den radikalen revolutionären Parteien überliefen, oder sogar den eigentlichen Motor der Revolution bildeten
• Unterschiedliche Geschwindigkeiten: noch war im russischen Riesenreich, diesem Vielvölkerstaat, die Revolution nicht überall angekommen. Für viele Bauern war ein Russland ohne Zar schlicht nicht vorstellbar
Die Konstellation machte es für die Provisorische Regierung schwierig, sich als stabiles Machtzentrum zu etablieren. Der entscheidende Schritt, die Wahl eines neuen Parlaments, zögerte sich immer weiter hinaus, bis die Bolschewiki, im Gegensatz zu ihren Kontrahenten Berufsrevolutionäre, die ihr Handwerk verstanden, in einem Staatsstreich die Macht an sich rissen, nachdem sie zuvor in einer Totalopposition die Provisorische Regierung immer wieder sabotiert hatten.
Grandios sind Baberowskis Schilderungen des Arbeiter- und Soldatenrates, wie sich dieses chaotische Gremium selbst organisierte, und wie es nach endlosen Debatten, bei denen sich jeder Anwesende zu Wort melden konnte, Beschlüsse fasste. Eine Fotografie (Seite 147) vermittelt den Eindruck einer Ratssitzung.
Prominenteste Figur der Provisorischen Regierung war der Sozialrevolutionär Alexander Kerenski, der mit seinen emotionalen Reden, an deren Enden er regelmässig in Ohnmacht fiel, die Zuhörer in Bann zu schlagen vermochte. Aber Kerenski ist mehr Charismatiker als Stratege, und die Wirkung seines rhetorischen Furors verpufft allmählich.
Und Zar Nikolai II.? Er ergibt sich beinah widerstandslos seinem Schicksal. Er fällt falsche Entscheidungen, zeigt sich lange uninteressiert an den Ereignissen in der Hauptstadt, und scheint am Ende froh zu sein, die Bürde der Macht loszuwerden. Er ist ein schwacher letzter Zar, der auch keine Loyalität zu generieren vermag, sicher mit ein Grund, warum es eben nicht gelang, die Revolution 1917 abzuwenden. Nach der Abdankung sind er und seine Familie den Revolutionären ausgeliefert; die Bolschewiki beschliessen dann im Sommer 1918, die Romanows zu liquidieren.
Mehr als 300 Jahre hatte diese Familie das riesige russische Reich regiert. Baberowskis detaillierte Erzählung vom Zusammenbruch der scheinbar gottgegebenen Ordnung und vom revolutionären Aufbruch ermöglicht uns Lesern eine faszinierende Zeitreise.
Kommentar
Sobald sich ein Radfahrer abseits asphaltierter Strassen bewegt, nimmt ihn die Beschaffenheit des Weges in Anspruch. Der junge Vladimir Nabokov sucht auf wechselnder Unterlage den Pfad des geringsten Widerstands, zum einen, zum anderen aber nimmt er Blätter oder Äste zum Anlass für kleine Radspiele. Er bewegt sich entlang der Reifen-Spuren des Vorabends; in gewissem Sinn dreht er sich im Kreis. Die hellen Tagesstunden, die der sportliche Teenager in gewohnter Weise nutzt, sind den Abendstunden gewichen, in denen er einer dunklen Ahnung nachfährt, dass das Leben noch etwas ganz anderes bereithält, unerhört anziehend. Die Unruhe wird ihn in Kürze dazu führen, eine neue Tür zu öffnen und gewohntes Terrain zu verlassen, so wie er jetzt mit dem Vorderrad das Tor am Ende des Parks aufstösst.
Der Park gehört zum Landgut Wyra, südlich von St. Petersburg gelegen, wohin die Familie Nabokov mit Dienstboten und Privat-Lehrern jeden Sommer zieht. Hier hat Vladimir einen Teil seiner glücklichen Kindheit verlebt, deren dramatisches Ende sich am Horizont abzuzeichnen beginnt – der 1. Weltkrieg und die russische Revolution werden dem feudalen Leben der Nabokovs ein dramatisches Ende bereiten.
Noch aber geniesst Vladimir die Privilegien eines jungen Adligen. Er hat ein Auge geworfen auf Polenka, die Tochter eines Kutschers der Nabokovs. Er nähert sich ihr mit dem Fahrrad und registriert die Veränderung ihrer Mine genauso aufmerksam, wie die Struktur des Weges zuvor. Zwar spricht er kein Wort mit ihr, aber der Flirt ergreift ihn heftig: jetzt hat seine Unruhe ein Ziel. Es ist das Vorspiel zum späteren Kapitel der Autobiographie, das Nabokov seiner Jugendliebe «Tamara» widmet.
Bereits in jener Zeit interessiert sich Vladimir für die Dichtkunst. Früh stand ein wichtiges Prinzip seiner Poetologie fest: „Doch wenigstens entdeckte ich, dass ein Mensch, der Dichter werden will, die Fähigkeit besitzen muss, gleichzeitig an verschiedene Dinge zu denken.“ (p. 294). Und dann auch die Fähigkeit, diese Vielschichtigkeit dem Leser zu vermitteln, möchte man ergänzen. Darin wurde der Schriftsteller Nabokov ein Virtuose. Er führt uns dieses Prinzip in der Fahrrad-Szene exemplarisch vor: wie anschaulich die Details der Tour beschrieben sind, und wie sie sich aber zugleich als Zeichen des bevorstehenden Aufbruchs lesen lassen; der junge Held hat sich mit dem «Rennmodell» dafür gerüstet.