Verzauberte Vorbestimmung
Autor:
Jonas Lüscher
Verlag: Hanser
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2025
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-446-28304-6
Einbandart: Hardcover
Seitenzahl: 352
Sprache: Deutsch
Besprechung
Bettina P.
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Besprechung
Die Geschichte beginnt mit einer Art Prolog. Eine nicht näher definierte Erzählstimme, einmal F., einmal Aimé genannt, berichtet ihrem Gegenüber von einem jungen algerischen Soldaten im 1. Weltkrieg, der dem Grauen der Schützengräben und Giftgaseinsätzen der modernen Kriegsmaschinerie den Rücken kehrt und auf und davon geht. Der Erzähler weiss das genaue Datum des Ereignisses, der 22. April 1915, und sogar die Tageszeit, kann jedoch nur vermuten, dass die Gedanken an seine Freundin Claire für den Entschluss des Soldaten ausschlaggebend waren. Was, wenn einer einfach aufhörte?
Der abtrünnige Soldat wechselte die Farbe seiner Uniform und wurde Briefträger im südfranzösischen Hauterives, wo wir auch auf den jungen Schriftsteller, Filmemacher und Maler Peter Weiss treffen. Auf einer weiteren Erzählebene tritt der Ich-Erzähler in Erscheinung, das von seiner Covid-Erkrankung genesene Alter Ego des Autors, der seinerseits auf den Spuren von Peter Weiss wandelt. Auf dieser seiner ersten Reise in die französische Provinz besucht er das monströse Palais Idéal, eine «Traummaschine», die ein anderer Briefträger namens Cheval Stein für Stein eigenhändig errichtete.
Der zweite Schauplatz des Romans ist das tschechische Varnsdorf, wo Weiss’ Vater vor der Flucht ins schwedische Exil einer Textilfirma vorstand. Zwischen menschenleeren Fabrikgebäuden in einer dystopisch wirkenden Szenerie schlägt dem Erzähler unvermittelt Brandgeruch entgegen und ein berittener Trupp sprengt mit gezückten Säbeln an ihm vorbei. Erschrocken sucht er sich hinter eine Autoreihe zu retten und die Zeiten beginnen zu verschwimmen. In den alten Gassen des vorindustriellen Städtchens wird er in einem Innenhof Zeuge einer Zusammenkunft verzweifelter Strumpfweber, die in einem Brief an die Herrschaften höhere Löhne zu erzwingen suchen. Zur Verdeutlichung ihrer Forderungen haben sie bereits eine Fabrik in Brand gesteckt. Hier tritt die humorvolle Seite, die der Roman durchaus aufweist, zutage: Verlangen die Aufgebrachten «schreib bis Freitagabend, ihr Hurenböcke!», so übersetzt der Schreiber artig respektvoll: «Herrschaften! Nehmen Sie gütigst zur Kenntnis diese Bekanntmachung». Die Heimarbeiter werden zur Tat schreiten und die feindlichen Maschinen mit einem Hammer zerstören. In Umkehrung eines Gemäldes von Peter Weiss trägt das Kapitel den Titel «Die Menschen greifen die Maschinen an».
Wie sich im Roman zahlreiche Binnengeschichten zu einem Ganzen verweben, erfahren wir hier auch vom zum Mythos gewordenen englischen Weber-König Ned Ludd, der hinter der irrwitzigen Mechanik in den Fabrikhallen ein göttliches Wirken vermutete, sich unklar darüber, wer nun «Herr und wer Knecht in diesem Tanz zwischen Mensch und Maschine war», so wie er manchmal in seiner Übermüdung den Eindruck hatte, dass der Webstuhl die Führung übernähme.
Die dritte Reise führt den Erzähler schliesslich in die Trabantenstädte Neu-Kairos, Siedlungen in der Wüste, Auswüchse des Spätkapitalismus, die den Zerfall bereits in sich tragen. Wir befinden uns in Pharao-City, etwa in der Mitte des laufenden Jahrhunderts. Die junge Tari tritt als Standup Comedian in einer Bar vor einer ausgezehrten Zuschauergruppe der Unterschicht auf, die sich in eruptivem Gelächter Erleichterung verschafft. Sie wird mit ihrer Geliebten Kate, einer «Angeschlossenen», einer Androidin aus der Oberschicht, zum Staudamm nach Assuan fahren und mit einem Hammer die Kopie Kates zerstören, damit diese endlich leben und sterben darf. Dies wird dem Erzähler sein Schatten Ba berichten, eine Kreatur aus der ägyptischen Mythologie mit dem Körper eines Vogels und dem Schriftstellergesicht von – genau – von Peter Weiss. Dieses Wesen ermöglicht als gleichsam spirituelle Entität den Flug durch die Zeit.
Der Roman ist eine tour de force durch Zeiten und Räume, wobei «der Pfeil der Zeit sich frei durch den Raum bewegt und fortwährend die Richtung wechselt.» Er umfasst etwa zweihundert Jahre. Zugleich ist er ein Spiel mit Erzählstimmen, in dem das Erzählen und Archivieren selbst zum Gegenstand wird und sich die Rädchen fein ineinandergreifend zum Gesamtgebilde fügen. Zentrales Thema ist die Maschine als Fluch und Segen zugleich. Sie erscheint einerseits als das gefrässige Etwas, das die Arbeitskraft der Menschen aushöhlt, sie andererseits aber auch in ehrfürchtiges Erstaunen versetzt und Leben rettet. Hier kommt die Covid-Erkrankung des Ich-Erzählers ins Spiel, der sieben Wochen lang im Koma lag und dessen Überleben vom Funktionieren der Geräte um ihn herum abhing. In den Phasen der Rückkehr erlebt er in surrealen psychedelischen Bildern den körperlichen Zerfall und die digitale Wiederherstellung seiner selbst.
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Der abtrünnige Soldat wechselte die Farbe seiner Uniform und wurde Briefträger im südfranzösischen Hauterives, wo wir auch auf den jungen Schriftsteller, Filmemacher und Maler Peter Weiss treffen. Auf einer weiteren Erzählebene tritt der Ich-Erzähler in Erscheinung, das von seiner Covid-Erkrankung genesene Alter Ego des Autors, der seinerseits auf den Spuren von Peter Weiss wandelt. Auf dieser seiner ersten Reise in die französische Provinz besucht er das monströse Palais Idéal, eine «Traummaschine», die ein anderer Briefträger namens Cheval Stein für Stein eigenhändig errichtete.
Der zweite Schauplatz des Romans ist das tschechische Varnsdorf, wo Weiss’ Vater vor der Flucht ins schwedische Exil einer Textilfirma vorstand. Zwischen menschenleeren Fabrikgebäuden in einer dystopisch wirkenden Szenerie schlägt dem Erzähler unvermittelt Brandgeruch entgegen und ein berittener Trupp sprengt mit gezückten Säbeln an ihm vorbei. Erschrocken sucht er sich hinter eine Autoreihe zu retten und die Zeiten beginnen zu verschwimmen. In den alten Gassen des vorindustriellen Städtchens wird er in einem Innenhof Zeuge einer Zusammenkunft verzweifelter Strumpfweber, die in einem Brief an die Herrschaften höhere Löhne zu erzwingen suchen. Zur Verdeutlichung ihrer Forderungen haben sie bereits eine Fabrik in Brand gesteckt. Hier tritt die humorvolle Seite, die der Roman durchaus aufweist, zutage: Verlangen die Aufgebrachten «schreib bis Freitagabend, ihr Hurenböcke!», so übersetzt der Schreiber artig respektvoll: «Herrschaften! Nehmen Sie gütigst zur Kenntnis diese Bekanntmachung». Die Heimarbeiter werden zur Tat schreiten und die feindlichen Maschinen mit einem Hammer zerstören. In Umkehrung eines Gemäldes von Peter Weiss trägt das Kapitel den Titel «Die Menschen greifen die Maschinen an».
Wie sich im Roman zahlreiche Binnengeschichten zu einem Ganzen verweben, erfahren wir hier auch vom zum Mythos gewordenen englischen Weber-König Ned Ludd, der hinter der irrwitzigen Mechanik in den Fabrikhallen ein göttliches Wirken vermutete, sich unklar darüber, wer nun «Herr und wer Knecht in diesem Tanz zwischen Mensch und Maschine war», so wie er manchmal in seiner Übermüdung den Eindruck hatte, dass der Webstuhl die Führung übernähme.
Die dritte Reise führt den Erzähler schliesslich in die Trabantenstädte Neu-Kairos, Siedlungen in der Wüste, Auswüchse des Spätkapitalismus, die den Zerfall bereits in sich tragen. Wir befinden uns in Pharao-City, etwa in der Mitte des laufenden Jahrhunderts. Die junge Tari tritt als Standup Comedian in einer Bar vor einer ausgezehrten Zuschauergruppe der Unterschicht auf, die sich in eruptivem Gelächter Erleichterung verschafft. Sie wird mit ihrer Geliebten Kate, einer «Angeschlossenen», einer Androidin aus der Oberschicht, zum Staudamm nach Assuan fahren und mit einem Hammer die Kopie Kates zerstören, damit diese endlich leben und sterben darf. Dies wird dem Erzähler sein Schatten Ba berichten, eine Kreatur aus der ägyptischen Mythologie mit dem Körper eines Vogels und dem Schriftstellergesicht von – genau – von Peter Weiss. Dieses Wesen ermöglicht als gleichsam spirituelle Entität den Flug durch die Zeit.
Der Roman ist eine tour de force durch Zeiten und Räume, wobei «der Pfeil der Zeit sich frei durch den Raum bewegt und fortwährend die Richtung wechselt.» Er umfasst etwa zweihundert Jahre. Zugleich ist er ein Spiel mit Erzählstimmen, in dem das Erzählen und Archivieren selbst zum Gegenstand wird und sich die Rädchen fein ineinandergreifend zum Gesamtgebilde fügen. Zentrales Thema ist die Maschine als Fluch und Segen zugleich. Sie erscheint einerseits als das gefrässige Etwas, das die Arbeitskraft der Menschen aushöhlt, sie andererseits aber auch in ehrfürchtiges Erstaunen versetzt und Leben rettet. Hier kommt die Covid-Erkrankung des Ich-Erzählers ins Spiel, der sieben Wochen lang im Koma lag und dessen Überleben vom Funktionieren der Geräte um ihn herum abhing. In den Phasen der Rückkehr erlebt er in surrealen psychedelischen Bildern den körperlichen Zerfall und die digitale Wiederherstellung seiner selbst.
Kommentar
Schon vor 450 Jahren stellte Michel de Montaigne durch Selbstbeobachtung fest, was Wissenschaftler unserer Tage wie Daniel Kahnemann (s. zB hier: https://lesart.blog/noise/) oder Robert Sapolsky in aufwendigen Experimenten und mit Statistiken belegen: Unsere Urteile und Meinungen sind stark kontextabhängig und können sich unter sachfremden Einflüssen massiv ändern.
Das ist dann problematisch, wenn ein Urteil Dritte betrifft, etwa beim Richter, der nach der Niederlage des lokalen Fussballteams tendenziell strengere Urteile ausspricht, wie Kahnemann nachweist. Auch Montaigne denkt über willkürliche Rechtsurteile nach (p. 281), in seinem Beispiel ist der Richter durch Gichtschmerzen beeinflusst.
Er reflektiert aber auch sein eigenes Verhalten: Ein Buch, das ihn zu einem früheren Zeitpunkt durch ausnehmend schöne Stellen entzückt hat, erscheint ihm später als «unförmige, mir unverständliche Wortmasse». Oder wenn er probeweise mal die Argumente der Gegner in einer bestimmten Frage übernimmt, kann es leicht passieren, dass aus dem Spiel ernst wird: er wechselt die Überzeugung, und vertritt sie dann mit Inbrunst.
Wie soll man als Individuum mit der Wankelmütigkeit der Ansichten und Urteile umgehen?
Michel de Montaigne erörtert die Frage ausführlich, auch an einem weltbewegenden Beispiel, wie dem im 16. Jahrhundert unter Druck geratenen geo-zentrischen Weltbild. Wer nun erwartet, dass Montaigne leichtfüssig ins Lager der neuen Ansicht wechselt und sich zum kopernikanischen Weltbild bekennt, da er ja grundsätzlich weiss, wie auch scheinbar feste Meinungen nur vorläufige sind, für den hält er eine Überraschung bereit. Montaigne denkt bereits weiter:
«Wenn wir eine neue Lehre vor uns auftauchen sehen, haben wir somit allen Grund, ihr zu misstrauen und zu bedenken, dass vor ihr die entgegengesetzte Zulauf hatte; und wie diese durch die neue gestürzt wurde, kann sich in Zukunft eine dritte Bahn brechen, die genauso die zweite zu Fall bringt.» (p. 284)