Buch im Fokus #33

11.04.2025
Wie lebt es sich in Mumbai, diesem uns Europäern so fremd anmutenden Moloch der Extreme an der Westküste des indischen Subkontinents? «No God in Sight» bietet auf 200 Seiten einen Mumbai-Crashkurs und wirft Schlaglichter auf düstere und komische Alltags-Szenen fiktiver Bewohnerinnen und Bewohner der Megacity. Lesen Sie mehr zu diesem auch formal originellen Roman von Altaf Tyrewala in «Buch im Fokus».

In Zitat & Kommentar #20 geht es um die Psychologie des Reisens: warum tauchen wir gern ein in eine fremde, exotische Umgebung (wie es für uns beispielsweise Mumbai ist)? Paul Theroux hat sich dazu in «The Old Patagonian Express» Gedanken gemacht, einem der herausragenden Reise-Berichte des 20. Jahrhunderts.
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No God in Sight

Autor: Altaf Tyrewala
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2006
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 9781596921948
Einbandart: gebunden
Seitenzahl: 209
Sprache: Englisch
Besprechung Moritz T.

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Inhalt

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Besprechung

«No God in Sight» ist ein Staffellauf über viele, meist sehr kurze Kapitel. Wir erleben aus der Perspektive einer Figur eine Alltagsepisode, in der eine andere Figur vorkommt, die dann im Folgekapitel im Mittelpunkt steht. Die Stafette startet und endet in einer Abtreibungsklinik, sie führt uns aber durch verschiedene Milieus und verschiedene Grade der Verzweiflung, denn das Leben in Mumbai, wie es der Autor zeigt, ist hart und kräftezehrend. Konfliktlinien verlaufen zwischen Eltern und Kindern, Frau und Mann, Chefs und Angestellten, und immer wieder zwischen Hindus und Muslimen. Der Autor ist muslimischer Herkunft und hat ein ausgeprägtes Sensorium für Diskriminierung, Hass und Gewalt, die die religiöse Zugehörigkeit hervorrufen kann. Der Roman ist 2006 erschienen, und seit die Bharatiya Janata Party (BJP) und Narendra Modi mit ihrem hindu-nationalistischen Kurs in Indien an der Macht sind, hat sich die Lage zwischen Hindus und Muslimen weiter zugespitzt.
Wir erleben eine von ihrem Hindu-Vater verstossene Frau, der ihr muslimischer Mann abhandengekommen ist, korrupte Polizisten, einen Hühnermetzger bei seiner Arbeit, der zwei Kinderschänder ermordet hat, einen desperaten Versicherungsverkäufer, der erfolglos von Tür zu Tür geht, einen Bettler, der sich einfach für ein paar Stunden aus dem trostlosen Dasein sniffen will, einen zweifelhaften Lehrer der Urdu-Poesie, der sich mit der Droge Betel für die Lektionen wappnet, und viele weitere Figuren in einem düsteren Szenen-Reigen, der immer wieder durch Sprachwitz und Situationskomik aufgelockert wird. Vieles wirkt satirisch überhöht, manches vielleicht auch etwas plakativ-klischeehaft, aber es ist ein Roman voller Energie, mit der sich der Autor schonungslos mit den Abgründen seiner Heimatstadt auseinandersetzt.
Indien ist ein Land der vielen Götter, insofern ist der Romantitel auch eine Provokation. Tatsächlich spielen Götter kaum eine Rolle in der Erzählung, zu dicht sind die Figuren eingesponnen in Sorgen, Ängste und den Kampf zu überleben. Transzendenz bedeutet in der Welt, die Altaf Tyrewala zeichnet, den nächsten Tag zu erreichen.
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Zitat & Kommentar #20

11.04.2025
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Paul Theroux : The Old Patagonian Express

Kommentar Moritz T.

The Old Patagonian Express_p. 221

Perhaps this explained my need to seek out the inscrutable magnetisms of the exotic: in the wildest place everyone looked so marginal, so temporary, so uncomfortable, so hungry and tired, it was possible as a traveller to be anonymous or even, paradoxically, to fit in. /*************************************************************************************************************************************************/ Vielleicht erklärte dies mein Bedürfnis, die unergründliche Anziehungskraft des Exotischen zu suchen: Am wildesten Ort sahen alle so unbedeutend, so provisorisch, so unbequem, so hungrig und müde aus, dass es möglich war, als Reisender anonym zu sein oder sogar, paradoxerweise, dazu zu gehören. (Deepl)

Kommentar

Ein Reisender ist nicht einfach einer, der Eindrücke empfängt und, wenn er ein Schriftsteller wie Paul Theroux ist, Aufzeichnungen macht. Was er erlebt, was er sieht, wie er selbst gesehen wird, lässt den Reisenden sein eigenes Leben reflektieren.

Je exotischer aber die Umgebung, desto weniger stark wird der Zwang zum Rückbezug auf das eigene Leben, auf den Alltag zuhause, desto mehr geht der Reisende auf in der Fremde. Man könnte zugespitzt auch formulieren: desto einfacher wird es, das Reiseerlebnis zu konsumieren (auch wenn das zulasten des Reise-Komforts geht).

Theroux analysiert, warum er die abgelegenen Schauplätze bevorzugt, warum er lieber in heruntergekommenen Städten verweilt, in dreckigen Zügen reist und in lausigen Hotels schläft. Und warum ihm nach den Erfahrungen in verarmten Landstrichen Guatemalas ein Unbehagen befällt in der vergleichsweise komfortablen Hauptstadt Costa Ricas, in San José.

Hier ist das Alltagsleben gar nicht so verschieden ist von demjenigen im heimischen Massachusetts. Es erinnert den Reisenden daran, dass es auch seine Lebenszeit ist, die hier verrinnt, er hat ein Leben zurückgelassen in den USA, das er in der Reisezeit hätte weiter aufbauen können. Er beobachtet, wie ein Paar einen Staubsauger auswählt, und diese Alltagszene löst Schuld- und Heimwehgefühle aus: „I saw a young couple picking out a vacuum cleaner, and I felt guilty and homesick.“ (p. 220)

Man schleppt sein Ich immer mit, es gibt auch auf Reisen nur momentweise eine Auszeit vom eigenen Leben, auch wenn es initial dieser Aspekt sein mag, der die Reiselust befeuert. Es zeichnet Theroux’ Text aus, dass er solche Mechanismen reflektiert, und nicht nur von den exotischen Schauplätzen berichtet und uns mit Anekdoten aus der Fremde unterhält.

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