Buch im Fokus #26

03.01.2025
Charlotte Brontë publizierte «Jane Eyre» 1847 in England unter dem Pseudonym «Currer Bell». Der «Gouvernanten-Roman» war ein sofortiger Erfolg beim Publikum, und er ist bis heute immer wieder neu aufgelegt und in viele Sprachen übersetzt worden. Ein Klassiker also, der aber seine andauernde Popularität wohl kaum dem über weite Strecken konventionellen Plot verdankt. Faszinierend ist bis heute vielmehr der eigenwillig-widersprüchliche Charakter der Titelheldin sowie die Intensität und Genauigkeit, mir der die Autorin die unterschiedlichen Gefühlswelten ihrer Figuren darstellt. Lesen Sie hier mehr zu «Jane Eyre».  **********************************   Lieber eine Neuerscheinung lesen oder einen Klassiker? Das Thema beschäftigte schon Joseph Joubert, einen Zeitgenossen von Charlotte Brontë. In «Zitat & Kommentar» #17 machen wir uns Gedanken dazu.
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Jane Eyre

Autor: Charlotte Brontë
Verlag: Folio Society
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2014
Weitere bibliographische Angaben
Einbandart: gebunden, in Schuber
Seitenzahl: 512
Sprache: Englisch
Erscheinungsjahr Originalausgabe: 1847
MT Moritz T.

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Inhalt

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Besprechung

Jane Austen hat mit ihren – gerade in den letzten Jahrzehnten oft verfilmten – Romanen unser England-Bild des frühen 19. Jahrhunderts wesentlich geprägt, mit ihren detailliert gezeichneten Gesellschaftstableaus, in deren Mittelpunkt eine junge Heldin allerlei Hürden nehmen muss auf dem Weg zu einer mindestens standesgemässen Heirat.

Das ist auch ein Motiv von Charlotte Brontës «Jane Eyre»; doch wir tauchen hier in eine ganz andere Welt ein als bei Austen. Die rund vierzig Jahre jüngere Brontë reflektiert in ihrem Roman ein weit breiteres Spektrum von gesellschaftlichen Positionen und individuellen Emotionen.

Jane, Protagonistin und Ich-Erzählerin, wächst nach dem Tod ihrer Eltern bei ihrer Tante auf, die ihr aber keine Liebe entgegenbringt und sie in der Familie isoliert. Noch so gern schiebt sie das widerspenstige Waisenkind ab in ein Internat, das an allen Ecken und Enden spart; die Kinder frieren häufig und gehen hungrig zu Bett. Die mangelnde Versorgung macht die Kinder anfällig für Krankheiten. Helen, Janes einzige Freundin, stirbt an Typhus.
Jane überlebt, und sie arbeitet später – unter verbesserten Bedingungen – eine Zeitlang selbst als Lehrerin an diesem Institut.

Sie erhält eine Stelle als Erzieherin auf dem Gut Thornfield, und ja, der Gutsherr Rochester und Jane verlieben sich. Und ja, es gibt zahlreiche Hindernisse zu überwinden, bis die beiden zueinander finden.

Über Thornfield liegt der Schatten eines dunklen Geheimnisses. Die Ich-Erzählerin Jane deckt es für uns Lesende nur nach und nach auf, wir befinden uns immer auf Janes jeweiligem Wissenstand. Rochester versteckt in einem Turmzimmer seine wahnsinnige Ehefrau Bertha. Sie ist das schlechthin Böse, unkontrollierbar, gefährlich – ein Monster. Janes schwer erschöpfbare Empathie reicht nicht an die Frau heran, die ihrem Glück im Wege steht.

Rochester hatte Jane nicht in diese tragische Geschichte eingeweiht. Sie verlässt Thornfield, mittel- und obdachlos durchlebt sie die grösste Krise ihres Lebens, die sie in eindrücklichen Szenen schildert. Schliesslich findet sie Zuflucht beim jungen Pfarrer St. John.

Jane hat eine starke Neigung zur Unterordnung, wie sie sich selbst eingesteht. Aber zugleich verliert sie nie ihre eigene Orientierung, für die sie Entbehrungen in Kauf nimmt, und im Extremfall auch die Konfrontation nicht scheut. Es ist diese eigenartige Mischung aus Harmoniebedürfnis, Konventionsneigung und davon unabhängigem Selbstbewusstsein –- das sich nicht aus äusserlichen Merkmalen nährt, Jane ist nicht attraktiv, und verfügt zunächst nicht über Geld –, die der Figur ihren Reiz verleiht.

St. John stellt Janes Kompass vor eine Herausforderung. Er macht ihr einen der merkwürdigeren Heiratsanträge der Literaturgeschichte. Praktische Überlegungen stehen im Vordergrund. Jane wäre die ideale Gefährtin für die Missionstätigkeit, die St. John in Indien anstrebt. Eigentlich geht es St. John aber auch darum, mit der arrangierten Heirat dem möglichen Gefühlschaos einer Liebesbeziehung vorzubeugen, die ihm nur hinderlich sein kann in seinem Dienst an Gott. Jane lehnt den Antrag des in christlicher Dogmatik erstarrten Geistlichen ab.

Religiosität ist ein wiederkehrendes Thema des Romans. Janes Jugendfreundin Helen findet Zuflucht im christlichen Glauben, ihre Cousine Eliza zieht sich zurück ins Kloster, und zuletzt macht der hochmütige Rochester, der ehemalige Besitzer von Thornfield, nach harten Schicksalsschlägen eine Wandlung zum gläubigen Menschen durch.

Der Plot mag mit solchen Läuterungen und Motiven wie der bösen Stiefmutter oder dem reichen Erbonkel etwas märchenhaft-antiquiert wirken. Aber das tut der Attraktivität des Romans kaum Abbruch. Die mitreissenden Schilderungen der höchst unterschiedlichen Leidenschaften machen «Jane Eyre» sehr lesenswert. Die Hauptfigur, in dieser Hinsicht den Protagonistinnen bei Jane Austen verwandt, ist eine Heldin, die mit ihrer durchschnittlichen Biographie und Begabung, mit ihrer Mittelmässigkeit, zur Identifikation einlädt. Dieses Element der Modernität hat sicherlich auch zur anhaltenden Popularität der Erzählung von Charlotte Brontë beigetragen.





































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Zitat & Kommentar

#17 03.01.2025
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Joseph Joubert : Pensées et Lettres

MT Moritz T.

Pensées et Lettres_p. 212

Le grand inconvénient des livres nouveaux est de nous empêcher de lire des anciens.       ********************************************************************************************************************                   Der grosse Nachteil der neuen Bücher: sie hindern uns an der Lektüre der alten.

Kommentar

Wie soll man mit dem nicht abreissenden Strom von neuen Büchern umgehen? Nehmen wir mal an, ein Lesemensch liest jeden Monat zwei Bücher, 24 pro Jahr und dann 1244 Titel in 60 Jahren: Das sind gerade mal 1.5% der 80’000 Neuerscheinungen, die gegenwärtig in einem Jahr in Deutschland, Österreich und der Schweiz erscheinen. Und wer wollte sich auf diesen Sprachraum beschränken? Vor allem aber: wer wollte sich nur auf aktuelle Bücher konzentrieren?

Der zitierte Aphorismus stammt von Joseph Joubert (1754 – 1824). Das Problem ist also nicht neu, es hat sich nur beträchtlich verschärft.

 

Nun gibt es die Position des abgeklärten Intellektuellen, der abwartet, ob die Saison-Sensation den Test der Zeit besteht. Er hat den Vorteil, seine Lesezeit «Mrs. Dalloway», «Jane Eyre», «Anna Karenina», «Effi Briest» oder «Madame Bovary» widmen zu können – und wer würde diese Romanheldinnen missen wollen?

 

Wie aber verständigen wir uns darüber, wie wir die Gegenwart lesen wollen? Die Deutungshoheit der (Print-)Medien erodiert oder fraktioniert sich zunehmend.  Als Alternative empfehlen sich ambitionierte Romane und Sachbücher mit dem Anspruch, Trends und Entdeckungen unserer Zeit auf den Punkt zu bringen, wie beispielsweise Nathan Hills Wellness : Lesart blog oder Ed Yongs Winzige Gefährten : Lesart blog. Verpasst man nicht eine Chance, wenn man ein solches Buch nicht eben in dieser Zeit liest?

 

Die Schwierigkeit ist natürlich, im Meer der Neuerscheinungen solche herausragenden Bücher zu erkennen. Aber dafür gibt es ja Blogs.

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