The Old Patagonian Express
Autor:
Paul Theroux
Untertitel: By train through the Americas
Verlag: Folio Society
Genre: Reisebericht
Erscheinungsjahr: 2023
Weitere bibliographische Angaben
Einbandart: gebunden, im Schuber
Seitenzahl: 456
Erscheinungsjahr Originalausgabe: 1979
Besprechung
Moritz T.
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Besprechung
«Old Patagonian Express» heisst der Zug, den Paul Theroux 1978 für das letzte Stück seiner langen Reise durch die Amerikas nimmt. Patagonien erscheint dem Reisenden als endlos, leer, repetitiv, die Orte an der Zuglinie austauschbar. Halbherzig hält er Ausschau nach Guanacos, und Vögeln. Aber Theroux ist kein bird watcher, und auch kein Tourist mit übermässigem Interesse an sight seeing. Er fällt durch die Kategorienraster, wie er selbst feststellt. Warum nimmt er die Strapazen der Reise auf sich? Er ist weniger interessiert am Ankommen, mehr am Sich-auf-den-Weg machen, am Unterwegs sein. Zugespitzt könnte man sagen: Er reist um zu reisen.
Aber sein a-touristischer Blick und seine Notizen wirken auch fast 50 Jahre nach der Reise noch frisch und lesenswert, gerade weil er seine Rolle als Reisender immer wieder mit bedenkt. Er sucht im Reisen die Anonymität, zum einen, weil er unbeobachtet am besten das Geschehen rings um aufnehmen kann, zum anderen aber auch, weil ihm dieses Eintauchen in die Umgebung eine Selbst-Entlastung bringt: er kann für Momente seine Geschichte, seine Probleme und Sorgen hinter sich lassen. Theroux reflektiert diesen zuweilen verborgenen Reiz des Reisens genau.
Züge sind im Lateinamerika das Transportmittel der Ärmsten, Tickets kosten den Nordamerikaner manchmal nur ein paar Cents. Entsprechend sehen die Züge aus: verdreckt, zugig, heruntergekommen. Auf manchen Fahrten verweigern die Mitpassagiere geradezu die Kommunikation mit dem Gringo, die armen Einheimischen erscheinen in ihrem Elend abgekapselt. Guatemala steht Ende der 1970er wirtschaftlich sehr schlecht dar, Costa Rica ist im Kontrast dazu nicht allzu weit weg vom US-amerikanischen Lebensstandard. In Panama war die Aufregung unter den US-Amerikanern in der Canal Zone gross, weil kurz zuvor der US-Präsident Carter die langfristige Rückgabe des Kanals an Panama beschlossen hatte. 2025 will ein ganz anderer US-Präsident diesen Vorgang rückgängig machen.
Es ist überhaupt reizvoll, diese Mini-Länderporträts von Ende der 1970er Jahre mit der gegenwärtigen Situation zu vergleichen. Argentinien war schon damals das Land mit dem grossen, aber unerfüllten Potential, das als amerikanisch-europäischer Hybrid vielerlei Projektionen auf sich zog, dabei aber eine nonchalante Neigung zu autokratischen Figuren hegt. Damals regierte General Videla, der kurz nach Theroux’ Reise die Fussball-WM im eigenen Land als Propaganda-Show für seine Diktatur nutzte.
Die Reportage eines Fussball-Länderspiels zwischen El Salvador und Mexico, zu dessen Besuch sich Theroux spontan entschliesst, ist einer der Höhepunkte des Buches: Grossartig, wie der Autor das intensive Spektakel und die latente und schliesslich eruptierende Gewaltbereitschaft des Publikums schildert, das sich selbst als Teil des Spiels begreift.
Sehr schön, wenn auch ganz anders geartet, das Kapitel, worin Theroux von den Begegnungen mit dem knapp 80 Jahre alten, erblindeten Jorge Luis Borges in Buenos Aires berichtet. Theroux besucht den grossen Doyen der südamerikanischen Literatur und liest ihm aus Büchern von Autoren vor, die beide zu ihren Favoriten zählen, etwa Poe oder Kipling. Unspektakulärer Austausch, der aber ein lebendiges Bild von Borges und seinen sehr eigenen Ansichten über Gott und die (Literatur-) Welt vermittelt. Auch unterwegs ist immer wieder von Literatur die Rede, Theroux langweilt sich gelegentlich auf den endlosen Zugfahrten, dann vertieft er sich in ein Buch und berichtet uns von seinen Lektüren (ebenfalls Poe, aber auch James Boswell, oder – Dürrenmatt).
Neben der Langeweile plagen den Reisenden aber auch manch andere Unbill: die Höhenkrankheit (kein Wunder bei einer Zugfahrt auf über 4000 Meter über Meer), gelegentlich Heimweh, oder ein nächtlicher Rattenbesuch im Hotelzimmer.
Der Autor trifft unterwegs auch andere US-Amerikaner, die er in ihren Rollen als Touristen oder Ex-Pats durchaus kritisch sieht. In seinen Begegnungen mit den Einheimischen meint man aber auch bei Theroux ein durchaus robustes Yankee-Selbstbewusstsein zu erkennen, bei aller Empathie, die er beispielsweise kolumbianischen Strassenkindern entgegenbringt.
«The Old Patagonian Express» ist ein vielschichtiges Reisebuch, das den geduldigen Leser mit hunderterlei Beobachtungen und Begegnungen, Reflexionen und Maximen, Zugbeschreibungen und Landschaftsschilderungen belohnt.
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Aber sein a-touristischer Blick und seine Notizen wirken auch fast 50 Jahre nach der Reise noch frisch und lesenswert, gerade weil er seine Rolle als Reisender immer wieder mit bedenkt. Er sucht im Reisen die Anonymität, zum einen, weil er unbeobachtet am besten das Geschehen rings um aufnehmen kann, zum anderen aber auch, weil ihm dieses Eintauchen in die Umgebung eine Selbst-Entlastung bringt: er kann für Momente seine Geschichte, seine Probleme und Sorgen hinter sich lassen. Theroux reflektiert diesen zuweilen verborgenen Reiz des Reisens genau.
Züge sind im Lateinamerika das Transportmittel der Ärmsten, Tickets kosten den Nordamerikaner manchmal nur ein paar Cents. Entsprechend sehen die Züge aus: verdreckt, zugig, heruntergekommen. Auf manchen Fahrten verweigern die Mitpassagiere geradezu die Kommunikation mit dem Gringo, die armen Einheimischen erscheinen in ihrem Elend abgekapselt. Guatemala steht Ende der 1970er wirtschaftlich sehr schlecht dar, Costa Rica ist im Kontrast dazu nicht allzu weit weg vom US-amerikanischen Lebensstandard. In Panama war die Aufregung unter den US-Amerikanern in der Canal Zone gross, weil kurz zuvor der US-Präsident Carter die langfristige Rückgabe des Kanals an Panama beschlossen hatte. 2025 will ein ganz anderer US-Präsident diesen Vorgang rückgängig machen.
Es ist überhaupt reizvoll, diese Mini-Länderporträts von Ende der 1970er Jahre mit der gegenwärtigen Situation zu vergleichen. Argentinien war schon damals das Land mit dem grossen, aber unerfüllten Potential, das als amerikanisch-europäischer Hybrid vielerlei Projektionen auf sich zog, dabei aber eine nonchalante Neigung zu autokratischen Figuren hegt. Damals regierte General Videla, der kurz nach Theroux’ Reise die Fussball-WM im eigenen Land als Propaganda-Show für seine Diktatur nutzte.
Die Reportage eines Fussball-Länderspiels zwischen El Salvador und Mexico, zu dessen Besuch sich Theroux spontan entschliesst, ist einer der Höhepunkte des Buches: Grossartig, wie der Autor das intensive Spektakel und die latente und schliesslich eruptierende Gewaltbereitschaft des Publikums schildert, das sich selbst als Teil des Spiels begreift.
Sehr schön, wenn auch ganz anders geartet, das Kapitel, worin Theroux von den Begegnungen mit dem knapp 80 Jahre alten, erblindeten Jorge Luis Borges in Buenos Aires berichtet. Theroux besucht den grossen Doyen der südamerikanischen Literatur und liest ihm aus Büchern von Autoren vor, die beide zu ihren Favoriten zählen, etwa Poe oder Kipling. Unspektakulärer Austausch, der aber ein lebendiges Bild von Borges und seinen sehr eigenen Ansichten über Gott und die (Literatur-) Welt vermittelt. Auch unterwegs ist immer wieder von Literatur die Rede, Theroux langweilt sich gelegentlich auf den endlosen Zugfahrten, dann vertieft er sich in ein Buch und berichtet uns von seinen Lektüren (ebenfalls Poe, aber auch James Boswell, oder – Dürrenmatt).
Neben der Langeweile plagen den Reisenden aber auch manch andere Unbill: die Höhenkrankheit (kein Wunder bei einer Zugfahrt auf über 4000 Meter über Meer), gelegentlich Heimweh, oder ein nächtlicher Rattenbesuch im Hotelzimmer.
Der Autor trifft unterwegs auch andere US-Amerikaner, die er in ihren Rollen als Touristen oder Ex-Pats durchaus kritisch sieht. In seinen Begegnungen mit den Einheimischen meint man aber auch bei Theroux ein durchaus robustes Yankee-Selbstbewusstsein zu erkennen, bei aller Empathie, die er beispielsweise kolumbianischen Strassenkindern entgegenbringt.
«The Old Patagonian Express» ist ein vielschichtiges Reisebuch, das den geduldigen Leser mit hunderterlei Beobachtungen und Begegnungen, Reflexionen und Maximen, Zugbeschreibungen und Landschaftsschilderungen belohnt.
Kommentar
Ein gerade mal 23-jähriger zieht 1964 im Song «It’s alright, Ma (I am only bleeding)» eine moralische Lebens-Bilanz. Sein Protagonist ist in jugendlicher Arroganz nicht übermässig beeindruckt von dem, was er vorfindet an Vorschriften und Weisheiten, er findet nichts, an dem er sich orientieren könnte: «I got nothing, Ma, to live up!»
In einem Sprech-Gesang, man könnte auch sagen: in vorweggenommenem Rap-Stil fegt Bob Dylan über sieben Minuten lang durch ein für damalige Popverhältnisse geradezu unfassbar dicht gewobenes, nicht immer leicht entschlüsselbares Textfeld, in dem er sich auch in den Live-Auftritten nicht verheddert, sondern mit eigenwilliger Phrasierung und bestechendem Timing glänzt. Zur Erinnerung: Die Beatles brachten im selben Jahr 1964 etwa das mitreissende «A Hard Day’s Night» heraus, das sich noch eng an die damals gültigen Songtext-Konventionen hält (s. Youtube links unten).
Mit einigen der Songzeilen bereichert Dylan dauerhaft den amerikanisch-englischen Zitatenschatz, etwa mit «he not busy being born is busy dying», «But even the president of the United States / Sometimes must have to stand naked», oder «money doesn’t talk, it swears». Er hatte sich bereits in noch jüngeren Jahren mit protest songs den Status einer Ikone der Folk-Szene erspielt. Zwar gibt es auch in «It’s alright, Ma» gesellschaftskritische Momente, die sich mit dem (Vietnam-)Krieg oder der Werbe-Industrie auseinandersetzen. Aber der Fokus ist zunehmend auf das innere Erleben gerichtet, auf den Umgang mit nicht aufzulösenden Widersprüchen, mit Desillusionierung und fehlenden Antworten. Der Optimismus von «The Times They Are A-Changin’» ist abhandengekommen, ebenso das klare Feindbild von «Masters of War».
Auch wenn die Bilanz wenig erfreulich ausfällt, versichert der Refrain immer wieder, dass «es» schon «in Ordnung sei», gefolgt von einer reflektierenden Einschränkung («I am only sighing») oder Bestärkung («I can make it») als Überleitung in die nächste Strophe.
In der letzten Strophe spitzt der Protagonist die Widersprüchlichkeiten zu, mit denen er und wir alle uns herumschlagen müssen:
«And if my thought-dreams could be seen / They’d probably put my head in a guillotine / But it’s alright, Ma, it’s life, and life only»
«Wenn mein Gedankenträume sichtbar wären / würden sie wahrscheinlich meinen Kopf in eine Guillotine stecken/ Aber das ist in Ordnung, Ma / es ist das Leben und nur das Leben»
Der Song schliesst mit einer an sich banalen, redundanten Zeile, die Dylan aber über die zurückgelegten Strophen mit so viel Bedeutung aufgeladen hat, dass dieses «It’s life, and life only» uns mit einer unerhörten, allen Widrigkeiten zum Trotz lebensbejahenden Dynamik aus dem Song entlässt – ins «Leben».
Demonstriert uns der 23 Jahre junge Mann hier, was der Schweizer Schriftsteller Ludwig Hohl (1904-1980) einst in seinen «Notizen» (1944) «unvoreilige Versöhnung» genannt hatte?
Bob Dylan: It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding) (live, mit Songtext)
https://www.youtube.com/watch?v=JBNWkCsmqAY
Sophie Hungers engagierte Coverversion
https://www.youtube.com/watch?v=JyEhLRaK3B4
Beatles: A Hard Day’s Night (live, mit Songtext)
https://www.youtube.com/watch?v=Yjyj8qnqkYI