Buch im Fokus #40

06.07.2025
Ein Glücksfall: in Banu Mushtaqs Erzählungen verbindet sich politisches Engagement mit poetischem Zauber.  Wir erhalten Einblick in eine südindisch-muslimische Community, in der Frauen oft eine äusserst prekäre Position innehaben. «Heart Lamp» hat in diesem Jahr den renommierten internationalen Booker-Preis gewonnen. Lesen Sie mehr zu der Erzählsammlung in «Buch im Fokus».

In Zitat & Kommentar #23 folgen wir dem jungen Vladimir Nabokov auf einer abendlichen Fahrrad-Tour, die er im autobiographischen Band «Erinnerung, sprich» beschreibt.
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Dieses Buch wird besprochen in: Indien Ausleihen (eBook)
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Heart Lamp

Autor: Banu Mushtaq
Verlag: And Other Stories
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2025
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-1-916751-16-3
Einbandart: kartoniert
Seitenzahl: 216
Sprache: Englisch
Originalsprache: Kannada
Übersetzung: Deepa Bhasthi
Besprechung Moritz T.

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Inhalt

Zugänglichkeit

Ausstattung

Besprechung

Die Erzählungen von «Heart Lamp» konfrontieren den (europäischen) Leser mit einer fremden Welt. Die Figuren befinden sich in wenig vertrauten Konstellationen, die Bedeutung mancher Codes und Fremd-Wörter, die die Übersetzerin in der indischen Ursprungssprache Kannada belassen hat, muss der Leser sich aus dem Kontext erschliessen. Hier wird nicht eine exotische Welt auf eine didaktische Weise für ein westliches Publikum zugänglich gemacht; konsequenterweise fehlen auch Glossar oder Fussnoten. Das Zielpublikum Banu Mushtaqs ist in erster Linie ihre eigene südindisch-muslimische Gemeinschaft, und das Ziel ist ein durchaus gesellschafts-politisches: die Mechanismen von Unterdrückung und Unfreiheit der Frauen zur Sprache zu bringen, und damit die Basis zu schaffen für Veränderung.
Engagierte Literatur also, die aber ihre Botschaft kunstvoll vermittelt. So fremd teilweise der Inhalt, so vertraut wirken die Formen dieser Erzählungen. Die Autorin setzt souverän Motive und Figuren der Erzähltradition ein, mit geschickt gesetzten Pointen und überraschenden Wendungen. Das herausragende «Fire Rain» etwa, worin ein religiöser Mob eine Leiche, die nicht nach muslimischen Riten begraben worden war, ein zweites Mal beerdigt, kann man sich von der formalen Qualität und vom Plot-Aufbau her sehr gut auch in einer westlichen Sammlung von Meister-Erzählungen vorstellen.
Die Titel-Erzählung «Heart Lamp» konzentriert sich ganz auf ein Kern-Thema der Autorin: eine Ehefrau und vielfache Mutter wird von ihrem Ehemann verlassen (sie ist ihm einfach nicht mehr attraktiv genug), ihre Herkunftsfamilie, bei der sie Unterstützung sucht, verstösst sie: wenn sie eine Scheidung anstrebt, ruiniert das nicht nur ihren Ruf, sondern verunmöglicht auch die Verheiratung ihrer noch ledigen jüngeren Schwestern. Besser wäre, wenn sie sich umbringt. Erschütternde Einsamkeit und Ausweglosigkeit.
Mushtaq zeigt, wie die Figuren in die religiösen und gesellschaftlichen Traditionen eingebunden und dort verwurzelt sind. Die Frauen tragen fast die ganze soziale Last, und sie haben in einem engen Korsett von Regeln und Erwartungen keinen Freiraum. Die Männer dagegen können sich, mit Billigung der Gemeinschaft, bei der erstbesten Gelegenheit aus der Verantwortung stehlen – nicht zuletzt dank der Option der Polygynie; ein Muslim kann bis zu vier Frauen ehelichen. Er zieht, wenn ihm ein Haushalt mit vielen Kindern zu anstrengend wird, einfach ein Haus weiter. Das ist auch Thema der Erzählung «Black Cobras», in der eine verlassene Frau, deren Kinder hungern, vergeblich eine Petition in der lokalen Moschee deponiert, mit der ihr Mann zur Räson gerufen werden soll.
Sehr lesenswert sind aber auch Erzählungen, die nicht in erster Linie das (traurige) Schicksal einer Heldin skizzieren, sondern einfach Szenen aus dem Alltagsleben schildern. Im zauberhaften «Soft whispers» erleben wir einige Episoden aus der Perspektive eines achtjährigen Mädchens, in «Red Lungi» wird das Fest einer Knabenbeschneidung detailliert geschildert, mit den höchst unterschiedlichen Emotionen, die die Figuren durchleben.
Der Band versammelt Erzählungen aus dreissig Jahren. Nicht alle können im selben Masse überzeugen. Aber die nur etwas mehr als 200 Seiten und 12 Erzählungen bieten insgesamt einen grossen Reichtum an Bildern und Figuren, die unseren Horizont erweitern und eindringlich vor Augen führen, wie prekär und vulnerabel die Position der Frau in der südindisch-muslimischen Gesellschaft sein kann.
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Zitat & Kommentar #23

06.07.2025
Dieses Buch wird besprochen in: Russland, Sowjetunion
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Vladimir Nabokov : Erinnerung, sprich

Kommentar Moritz T.

Erinnerung, sprich_p. 282

Die Schmetterlingsjagd und verschiedene Sportarten nahmen die sonnigen Stunden in Anspruch, aber alle körperlichen Anstrengungen konnten die Unruhe nicht verhindern, die mich Abend für Abend auf vage Entdeckungsreisen gehen liess. Wenn ich den grössten Teil des Nachmittags im Pferdesattel verbracht hatte, war es ein seltsam beschwingtes, fast körperloses Gefühl, in der farbigen Abenddämmerung mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Ich hatte die Lenkstange meines Enfield-Rades umgedreht und so verstellt, dass sie tiefer als der Sattel lag, und es entsprach nunmehr meiner Vorstellung von einem Rennmodell. So gondelte ich über die Parkwege den gemusterten Spuren nach, die die Dunlop-Reifen am Vortag eingedrückt hatten; kunstgerecht vermied ich die Grate der Baumwurzeln; ein loser Zweig wurde angepeilt, und zersprang knackend unter meinem sensiblen Vorderrad; ich schlängelte mich zwischen zwei flachen Blättern und zwischen einem kleinen Stein und dem Loch hindurch, aus dem er am Vorabend herausgerissen worden war; ich genoss die kurze Ebenheit einer Brücke über einen Bach; ich fuhr am Drahtzaun entlang um den Tennisplatz herum; stiess mit der Radschnauze das kleine weissgetünchte Tor am Ende des Parkes auf; und radelte im melancholischen Genuss meiner Freiheit über die ausgetrockneten, angenehm zusammengebackenen Seitenstreifen langer Feldwege.

Kommentar

Sobald sich ein Radfahrer abseits asphaltierter Strassen bewegt, nimmt ihn die Beschaffenheit des Weges in Anspruch. Der junge Vladimir Nabokov sucht auf wechselnder Unterlage den Pfad des geringsten Widerstands, zum einen, zum anderen aber nimmt er Blätter oder Äste zum Anlass für kleine Radspiele. Er bewegt sich entlang der Reifen-Spuren des Vorabends; in gewissem Sinn dreht er sich im Kreis. Die hellen Tagesstunden, die der sportliche Teenager in gewohnter Weise nutzt, sind den Abendstunden gewichen, in denen er einer dunklen Ahnung nachfährt, dass das Leben noch etwas ganz anderes bereithält, unerhört anziehend. Die Unruhe wird ihn in Kürze dazu führen, eine neue Tür zu öffnen und gewohntes Terrain zu verlassen, so wie er jetzt mit dem Vorderrad das Tor am Ende des Parks aufstösst.

Der Park gehört zum Landgut Wyra, südlich von St. Petersburg gelegen, wohin die Familie Nabokov mit Dienstboten und Privat-Lehrern jeden Sommer zieht. Hier hat Vladimir einen Teil seiner glücklichen Kindheit verlebt, deren dramatisches Ende sich am Horizont abzuzeichnen beginnt – der 1. Weltkrieg und die russische Revolution werden dem feudalen Leben der Nabokovs ein dramatisches Ende bereiten.

Noch aber geniesst Vladimir die Privilegien eines jungen Adligen. Er hat ein Auge geworfen auf Polenka, die Tochter eines Kutschers der Nabokovs. Er nähert sich ihr mit dem Fahrrad und registriert die Veränderung ihrer Mine genauso aufmerksam, wie die Struktur des Weges zuvor. Zwar spricht er kein Wort mit ihr, aber der Flirt ergreift ihn heftig: jetzt hat seine Unruhe ein Ziel. Es ist das Vorspiel zum späteren Kapitel der Autobiographie, das Nabokov seiner Jugendliebe «Tamara» widmet.

Bereits in jener Zeit interessiert sich Vladimir für die Dichtkunst. Früh stand ein wichtiges Prinzip seiner Poetologie fest:  „Doch wenigstens entdeckte ich, dass ein Mensch, der Dichter werden will, die Fähigkeit besitzen muss, gleichzeitig an verschiedene Dinge zu denken.“ (p. 294). Und dann auch die Fähigkeit, diese Vielschichtigkeit dem Leser zu vermitteln, möchte man ergänzen. Darin wurde der Schriftsteller Nabokov ein Virtuose. Er führt uns dieses Prinzip in der Fahrrad-Szene exemplarisch vor: wie anschaulich die Details der Tour beschrieben sind, und wie sie sich aber zugleich als Zeichen des bevorstehenden Aufbruchs lesen lassen; der junge Held hat sich mit dem «Rennmodell» dafür gerüstet.

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