Buch im Fokus #39

21.06.2025
Gerhard Meier (1917-2008) hat mit seiner Tetralogie «Baur und Bindschädler» einem Schweizer Dorf am Jurasüdfuss ein facettenreiches literarisches Denkmal errichtet, das wir in «Buch im Fokus» einer Betrachtung unterziehen; in der Lese-Gruppe Gerhard Meier finden sich zusätzlich Einzel-Besprechungen der vier Bände.
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Baur und Bindschädler

Autor: Gerhard Meier
Untertitel: Amrainer Tetralogie
Verlag: Zytglogge
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2008
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-7296-0773-6
Einbandart: gebunden
Seitenzahl: 600
Sprache: Deutsch
Besprechung Moritz T.

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Inhalt

Zugänglichkeit

Ausstattung

Besprechung

In vier schmalen Roman-Bänden, die zwischen 1979 und 1990 publiziert wurden, erkunden die Protagonisten Baur und Bindschädler den Kosmos eines Schweizer Dorfes.

Im ersten Band spazieren die beiden Freunde durch Olten, das Industrieareal und die Stadt. Im Zentrum des Gesprächs aber schon da das Dorf Amrain. Baurs Biographie deckt sich in vielerlei Hinsicht mit derjenigen des Autors Gerhard Meier, und Amrain steht für das oberaargauische Niederbipp, wo Meier aufgewachsen ist und sein Leben verbracht hat.
In Band zwei und drei finden sich die beiden Figuren in Amrain selbst zum Gespräch. Band vier handelt im Wesentlichen vom Besuch Bindschädlers bei Baurs Witwe Katharina, mit der zusammen er sich an Baur erinnert.

Von Baur, seiner Familie, seinem Dorf erfahren wir sehr viel, von Bindschädler wissen wir am Ende recht wenig. Baur berichtet Bindschädler von seinem Wunsch zu schreiben, von seinen Zweifeln, ob er dazu in der Lage oder legitimiert sei. Offenbar hat Bindschädler die Gedanken Baurs zu Papier gebracht, und holt so gewissermassen nach, was Baur versäumt hatte. Mit diesem Kunstgriff kann der Autor Baurs Welt aus einer Innenperspektive (die Wiedergabe langer Monologe Baurs) und einer Aussenperspektive (die gelegentlichen Beobachtungen und Ergänzungen Bindschädlers und von Baurs Frau Katharina) zeigen.

Der Autor betreibt moderaten Aufwand, um die Begegnungen der Freunde einzubetten in Tagesabläufe: Die Zeit vergeht, man isst, ruht sich aus, trinkt Kaffee, spaziert. Zurückgenommen werden die äusseren Umstände im dritten Band «Die Ballade vom Schneien», der von der Nacht berichtet, in der Baur stirbt. Hier kommt diese Erzählung ganz zu sich, konzentrierte, dicht gewobene Prosa.

Die zumeist unspektakulären Lebensläufe der Verwandten Baurs oder der Amrainer Dorfleute werden ausführlich verhandelt. Scheitern, Unglück, Wahnsinn, Krankheiten, Tod werden ohne emotionale Wallungen konstatiert: Sie sind Teil des Lebens. Die Toten haben ein Gewicht wie die Lebenden, ihre Stimmen, ihre Wohnungseinrichtungen, ihre Eigenheiten sind präsent.
Gern denkt Baur, von Alltagsbeobachtungen ausgehend, auch über spirituelle Fragen nach. Leben und Lehren von Christus sind Baurs wichtig, und wir können uns gut vorstellen, dass der sonntägliche Kirchenbesuch ein Fixpunkt im Leben des Ehepaars ist. Aber Baurs persönliche Religiosität ist nicht immer ganz im Einklang mit der kirchlich-orthodoxen Lehre. Wenn Wiederauferstehung oder ewiges Leben in den Blick kommen, dann eher im Sinn vom Kreislauf des Lebens und Metamorphose. «Gott» (oder auch schlicht «es», das «Salz des Lebens») wird in einer merkwürdigen Definitionsreihe durchdekliniert, Baur legt sich schliesslich darauf fest, dass Gott das Licht ist. Die Anwandlung von Geborgenheit beim Hören «des grossen Klanges» aus dem Sternbild der Jagdhunde lässt ebenso auf eine höchst eigenwillige Metaphysik schliessen.

Nie sind Kaspar und Katharina Baur nach Russland gereist, aber Russland ist ein wichtiger Bezugspunkt, ein «Sehnsuchtsland» in allen vier Bänden. Baur, Bindschädler und Katharina Baur sind fasziniert von der Weite der Landschaft, der Mentalität, russischer Geschichte oder von Tolstois «Krieg und Frieden».
Die Bezüge zur Literatur nehmen viel Raum ein, in «Ballade vom Schneien» wird seitenlang aus Büchern von Claude Simon, Proust, Robert Walser und der Bibel vorgelesen. Sie sind essentiell für Baur, genauso wie die Musik oder die Malerei, Chopin beispielsweise, oder Ravel, an zentralen Stellen wird Schostakowitschs 4. Sinfonie abgespielt; immer wieder ist von den Gemälden Caspar David Friedrichs die Rede.

Baurs mild-ironisch gefärbter Blick auf viele disparate Erscheinungen, vom vorbeisegelnden Schmetterling bis zu Napoleon, schafft einen Tiefenraum, der das Dorf zu einem Schauplatz des Welt-Geschehens macht, ja, gemäss Baur ist die Brauerei in Amrain «das Zentrum der Welt». Die Prosa verleugnet dabei keineswegs die provinzielle Herkunft, sie ist zuweilen schwerfällig, etwas sperrig, entwickelt aber einen eigenen Charme.
Baurs Empfindungsfähigkeit geht einher mit einer gewissen Lebensfremdheit, die ihm auch seine Frau attestiert. Damit ist er gewiss auch ein Aussenseiter im geschäftigen Dorf, aber einer, der dort dennoch verwurzelt ist und mit dem uns Gerhard Meier eine neue, reichhaltige Perspektive auf das Dorf-Leben schenkt.

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Zitat & Kommentar #22

07.06.2025
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Jörg Baberowski : Die letzte Fahrt des Zaren

Kommentar Moritz T.

Die letzte Fahrt des Zaren_p. 256

Nabokov, der im Auftrag der Provisorischen Regierung die Verzichtserklärung des Grossfürsten formuliert, sieht klarer als andere, was die zweifache Abdankung bedeutet. Sie löst eine fundamentale Staatskrise aus.

Kommentar

Für einen Moment befand sich Vladimir Dmitrievich Nabokov Anfang März 1917 im Zentrum des Hurrikans, der den russischen Zaren-Staat erschütterte und schliesslich zerstörte.
Nabokov, Sohn eines Justizministers (unter Zar Alexander II.), war selbst Jurist und Mitglied der Konstitutionell-Demokratischen Partei Russlands, Parlamentarier der ersten Duma (ab 1906), und Herausgeber einer liberalen Tageszeitung.
Er begrüsste die Februar-Revolution von 1917, und war in verschiedenen Funktionen für die «Provisorische Regierung» tätig, die den Übergang von der zaristischen Autokratie in eine neue Regierungsform zu moderieren versuchte.
Zar Nikolai II. hatte unter dem Druck des Arbeiter- und Soldatenrates, der eine Art Nebenregierung zur Provisorischen Regierung bildete, abgedankt. An wen sollte nun die Macht übergeben werden?
Die vertrackte Lage präsentierte sich juristisch wie folgt:
 Zar Nikolai II. hätte zum einen gar nicht abdanken dürfen, weil das Zarenthronfolgegesetz diese Möglichkeit nicht vorsieht
 Und schon gar nicht hätte zum anderen der Zar seinen Bruder Grossfürst Michail zu seinem Nachfolger bestimmen können, wie der Zar das aus einer emotionalen Regung heraus gemacht hatte, damit er sich nicht von seinem Sohn, dem eigentlich designierten Thronfolger, trennen musste.
 Und jetzt verzichtet zum Dritten auch der Bruder des Zaren unter dem Druck des Arbeiter- und Soldatenrats auf den Thron

Weder für den Zaren noch seinen Bruder standen in dieser Situation rechtliche Überlegungen im Vordergrund. Nabokov, der nun zu Hilfe gerufen wird, realisiert aber sofort, dass aus juristischer Perspektive mit der doppelten Abdankung ein Macht-Vakuum mit unabsehbaren Folgen droht. Er versucht der Deklaration des Grossfürsten, mit deren Redaktion er beauftragt ist, einen Legitimationsanstrich für die Provisorische Regierung der Februar-Revolution zu geben. Denn «die Monarchie ist die einzige Legitimationsquelle der politischen Ordnung und die einzige Klammer, die das Vielvölkerreich zusammenhält», wie es bei Baberowski heisst. Nabokov fügt die Wendung in die Urkunde ein, dass der Grossfürst die gesamte «Fülle der Macht» an die Provisorische Regierung übertrage, und die Bevölkerung zum Gehorsam gegenüber dieser Regierung aufruft. Der aus der Not geborene Zaubertrick wird allerdings vollends zur Farce, als Michail sich weigert, in der Urkunde den Pluralis Majestatis zu verwenden, und am Ende schlicht als Bürger mit seinem Namen unterzeichnet: Hier verzichtet jemand auf die Macht, auf die er ohnehin keinen Anspruch hat und auch nicht erhebt, und leitet dennoch aus diesem Verzicht das Recht ab, die Macht weiterzugeben.
Die Provisorische Regierung hat also keine Rechtsgrundlage. Aber ist angesichts der Realität in den Strassen Petrograds, wo Soldaten Geschäfte plündern und Offiziere demütigen oder einfach ermorden, Nabokovs Legitimations-Versuch nicht ohnehin eine müssige, eher akademische Übung? In der konfusen Lage nach der Februar-Revolution gehört die Macht demjenigen, der sie sich nimmt: Die Bolschewiki kümmerten sich wenig um eine Legitimierung ihres Machtanspruchs, als sie dann im Oktober 1917 ihren Staatsstreich durchführten. Sie beriefen sich auf den unvermeidlichen Gang der Weltgeschichte und deklarierten sich zu ihrem Agenten. Ironie der Geschichte: Diese Art der absoluten Legitimierung entspricht in ihrer Argumentation derjenigen des Zarentums, das seine Herrschaft ursprünglich als gottgegeben deklarierte.
Aber: die Bolschewiki lösten mit ihrer Machtübernahme einen blutigen Bürgerkrieg aus, ein Szenario, das die Mitglieder der Provisorischen Regierung zu vermeiden suchten, genauso wie Nabokov, als er seinen juristischen Kniff anwendete, um der neuen Regierung ein stabileres Fundament und bessere Akzeptanz zu verleihen.

Kleines literaturgeschichtliches P.S.: Eine grosse Affinität zu Zaubertricks, intrikaten Plots und auch Schachrätseln zeichnete später den Sohn Nabokovs aus, den grossen Schriftsteller Vladimir Vladimirovich Nabokov.

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