Buch im Fokus #47

11.10.2025
In «Erinnerung, sprich» erfahren wir, wie sehr Kindheit und Jugend im vor-revolutionären Russland den russisch-amerikanischen Schriftsteller Vladimir Nabokov geprägt haben. Die Autobiographie ist vor einem halben Jahrhundert in englischer Sprache erschienen, hat aber nichts von ihrer Frische und Farbigkeit verloren. Tauchen Sie mit «Buch in Fokus» ein in die untergegangene Welt des zaristischen Russlands, und in Motive und Themen von Nabokovs grossen Romanen.

Ein Kapitel von «Erinnerung, sprich» ist der Jugendliebe Tamara gewidmet, die eigentlich Walentina hiess und die Nabokov in seinem ersten Roman «Maschenka» portraitiert, s. die Blog-Besprechung hier Maschenka
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Erinnerung, sprich

Autor: Vladimir Nabokov
Verlag: Rowohlt
Genre: Autobiographie
Erscheinungsjahr: 1991
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-498-04659-0
Seitenzahl: 576
Sprache: Deutsch
Besprechung Moritz T.

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Besprechung

Vladimir Nabokovs «Erinnerung, sprich» zeugt vom markanten Einschnitt eines welthistorischen Ereignisses in eine Biographie: Der 18-jährige Jugendliche musste nach der russischen Oktober-Revolution 1917 mit seiner Familie emigrieren und das überaus privilegierte Leben eines Mitglieds der russischen Adels-Elite hinter sich lassen.
1899 wurde Vladimir in eine Familie in St. Petersburg hineingeboren, in die Vater und Mutter aus ihren jeweiligen Familien beträchtliche Vermögen eingebracht hatten. Wie wohlhabend die Nabokovs gewesen sein müssen, erschliesst sich aus der Anzahl Dienstboten, die dem Haushalt in der Hauptstadt und im südlich davon gelegenen Landgut Wyra zu Diensten standen: Es waren nicht weniger als fünfzig. Der Vater war Jurist und politisch sehr aktiv, als Liberaler in Opposition zum autokratischen Zarenregime; er engagierte sich in den Revolutionen 1905 und 1917. Vladimir wuchs sehr behütet auf, und genoss das vielseitige Beschäftigungsprogramm eines Adelssprösslings: Mehrsprachiger Privatunterricht, Tennis, Reiten, Schach, das vom Vater übernommene exquisite Hobby des Schmetterlingssammelns, das von der fürsorglichen Mutter geförderte Interesse an Literatur, oder Ferienreisen nach Biarritz oder Bad Kissingen. Ein Urvertrauen in die Existenz scheint Vladimir von seiner liebevollen, leicht weltfremden Mutter geerbt zu haben, die eine Neigung zur Esoterik hatte und begeistert auf das synästhetische Empfinden oder andere «milde Halluzinationen» des Knaben reagierte. Da wurde früh eine Basis für die eigenwillige Poetologie Nabokovs gelegt, der diese Kindheitswelt in leuchtenden Sätzen beschreibt, die sie für ihn und für uns lebendig halten, getreu seiner Philosophie der Zeit, die, verkürzt gesagt, gar nicht vergeht.

Zu den Glanzstücken der Autobiographie zählen die Porträts von Gouvernanten und Privatlehrern, die sich um Vladimir und seine Geschwister kümmerten, und ihre Marotten. Mit leichter Ironie werden die Erfahrungen der aus der Schweiz angereisten «Mademoiselle» in der russischen Fremde geschildert, mit dem herrlichen Bild bei der Ankunft: Die ängstliche Schweizerin hielt die funkelnden Lichter der Dörfer in der Ferne für «die gelben Augen von Wölfen».

Auffällig wenige Worte verliert Vladimir über seine Geschwister. Der Erstgeborene erscheint als Liebling der Eltern und steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Geschwister sind eher Staffage. Das Verhältnis zum nur ein Jahr jüngeren, schüchternen und stotternden Sergej ist kein enges, er kann sich auch später mit dem homosexuellen Bruder kaum anfreunden, der 1945 in einem deutschen Konzentrationslager starb. Das Buch ist – wie fast alle seine Bücher – Nabokovs Frau Vera gewidmet, aber auch sie und der gemeinsame Sohn Dimitri spielen nur eine kleine Nebenrolle in diesem Text.
Viel Raum nehmen die Abschnitte ein, die Vladimirs frühes Interesse für Mädchen schildern, vom Ferienflirt Colette über die Kutscherstochter Polenka bis zum sorgfältigen Portrait der Jugendliebe «Tamara», die eigentlich Walentina hiess. Die Liebe zu sehr jungen Frauen bleibt dann bekanntlich ein grosses Thema von Nabokovs Romanen.

Man gewinnt den Eindruck, als ob die Erinnerungsschätze der Kindheit und Jugend Nabokov gegen das Trauma des Exils immunisieren, von dem er in den letzten Kapiteln in eher beiläufigem, sachlich-ironischem Ton erzählt, von den Demütigungen des Fremden und vom schwierigen Start der Schriftsteller-Karriere in Westeuropa. Er bewahrt sich die etwas hochmütige Distanz des russischen Adligen, selbst als er alle damit verbundenen Privilegien eingebüsst hat.

Die Kapitel sind zu verschiedenen Zeitpunkten (um-)geschrieben worden. Das ist kein Text aus einem Guss, man zögert auch etwas, das Buch in erster Linie als Lebensbericht zu verstehen. Vielmehr sind es einzelne Erinnerungs-Kunststücke, in denen Nabokov mit seiner Virtuosität der Anspielungen und Doppelbödigkeiten brilliert; gelegentlich mag eine Szene allzu elaboriert wirken, als präpariere der Autor sorgfältig einen aufgespiessten Schmetterlingsfang. Aber «Erinnerung, sprich» ist ein reiches Buch, das dem Leser bei wiederholter Lektüre immer neue Aspekte enthüllt. Hier wird es uns von Dieter E. Zimmer in einer sorgfältig annotierten und prächtig ausgestatteten Ausgabe präsentiert.
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Zitat & Kommentar #24

16.08.2025
Dieses Buch wird besprochen in: Kunstgeschichte
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Armin Zweite : Das Denken ist beim Malen das Malen

Kommentar Moritz T.

das denken ist beim malen das malen_p. 306

Bilder sind für Richter keine Modelle einer besseren Welt. Sie können jedoch ein Trost sein, «wenn sie genügend Geheimnis besitzen und ähnlich rätselhaft sind wie das Leben selbst. Allein die Annäherung an diesen Zustand löst Glückgefühle aus».

Kommentar

Gerhard Richter nimmt immer wieder Bezug auf die Kunstgeschichte, beispielsweise auf Velázquez oder Vermeer. In einem Interview aus dem Jahr 2002 verrät er, was er in diesen Bildern sucht: nicht (nur) ästhetische Perfektion oder handwerkliche Präzision, sondern «Geheimnis» und «Rätsel».
Das Leben ist für uns alle rätselhaft; die Künstler, so könnte man Richters Gedanken interpretieren, setzen sich intensiv damit auseinander. Ein gelungenes Bild zeichnet sich dann durch ein hohes Mass an existenzieller Rätselhaftigkeit aus. Auch wenn die Menschen mit Religionen oder ideologischen Utopien das Geheimnis gemeinschaftlich zu lüften oder immerhin zu zähmen versuchen, bleibt der einzelne Mensch mit seinen Zweifeln und seinen Fragen doch allein. Wenn dann ein Kunstwerk an das Rätsel des Lebens rührt, kann das «Glücksgefühle auslösen». Allerdings liegt es in der Natur eines Geheimnisses, dass es nicht ohne weiteres zutage liegt. Der Bild-Betrachter muss seinen Beitrag leisten, um in einen Dialog mit dem Geheimnis zu treten. Dies ist ganz im Sinne Richters, für den das «Sehen» die entscheidende Kunst-Tätigkeit ist, und der eine Gleichstellung von Produzent und Betrachter postuliert.

Mit dem metaphysischen Anspruch an die Kunst hat Gerhard Richter natürlich auch sein eigenes, faszinierend vielfältiges und rätselhaftes Werk im Blick.

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