Buch im Fokus #52

21.12.2025
Am 10. Dezember wurde in Stockholm der Literaturnobelpreis an László Krasznahorkai verliehen. Der faszinierende Erzählband «Seiobo auf Erden» bietet einen guten Einstieg in das nicht leicht zugängliche Werk des ungarischen Schriftstellers. Buch im Fokus setzt sich mit den hauptsächlich in Südeuropa und Japan spielenden Geschichten von «Seiobo auf Erden» auseinander.
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Seiobo auf Erden

Autor: László Krasznahorkai
Untertitel: Erzählungen
Verlag: Fischer
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2012
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-596-18397-5
Einbandart: Taschenbuch
Seitenzahl: 464
Sprache: Deutsch
Originalsprache: Ungarisch
Übersetzung: Heike Flemming
Besprechung Moritz Th.

Bewertungen

Inhalt

Zugänglichkeit

Ausstattung

Besprechung

Die Figuren in diesen Erzählungen sind oft einsam und heimgesucht von Obsessionen, die manchmal an den Wahnsinn grenzen. So in «Auf der Akropolis», als ein Osteuropäer in einer nicht näher hergeleiteten Lebenskrise nach Athen fliegt und bei grösster Mittagshitze unbedingt die Akropolis besichtigen muss. Oder wir erleben in «Private Leidenschaft» den Vortrag eines Architekten mit einer unbändigen Liebe für Barock und Bach (und mit einem Hass auf alles spätere, sei das Mozart, Beethoven, oder, horribile dictu, Wagner), der ob seiner Musikleidenschaft die Gesellschaftsfähigkeit einbüsst und sein spärliches Publikum vor allem verschreckt. Auch wenn der Autor komische Effekte nicht verschmäht, durchzieht die Geschichten im Allgemeinen eine tiefe Melancholie, zuweilen Todessehnsucht.

Den Auftakt macht eine Studie eines weissen Reihers, der still und steif im Fluss Kamo in Kyoto steht. Die langen Sätze evozieren das turbulente Gewässer, das den einsamen Jäger, die einzige Vertikale im Flussbild, umwirbelt. Es ist eine Meditation über das Lebensprinzip des Fressens und des Tötens, dem der Reiher, wie viele Lebewesen, ausgeliefert ist.
In fast allen Geschichten kommt eine Faszination für die bildende Kunst, meist in Verbindung mit Religion, zum Ausdruck. Im Vordergrund stehen dabei die Materialität der Kunst, die verwendeten Stoffe, oder handwerkliche Fertigkeiten. Wir erfahren, mit welcher Sorgfalt der Renaissance-Maler Perugino, der Lehrer von Raffael, die Farben zubereitete. Oder wie nach einem 1300 Jahre alten Ritual die Hinokizypressen gefällt und verarbeitet werden, die zur Erneuerung des Shinto-Schreins in Ise verwendet werden, die alle 20 Jahre in feierlicher Zeremonie von statten geht. Die Erzählungen nehmen dann zuweilen die Form von Essays an. Krasznahorkai hat einen eigenwilligen Stil entwickelt, auch wenn eine gewisse Verwandtschaft mit Thomas Bernhard oder W.G. Sebald nicht zu verkennen ist.

Während sonst die europäischen und die japanischen Welten in den Geschichten getrennt erscheinen, führt «Der «Neubau des Ise-Schreins» einen europäischen und japanischen Freund zusammen und exemplarisch vor Augen, wie schwierig die interkulturelle Kommunikation ist.
Gerade auch in den zeitlich oder geographisch in entfernten Zonen spielenden Geschichten fällt auf, wie sorgfältig der Autor recherchiert hat, wie atmosphärisch dicht und glaubwürdig er die Szenen aufzubereiten versteht. Die Detailversessenheit dieser Prosa, die ausgefeilten endlosen Sätze reflektieren die Faszination der Figuren für das Handwerk der Künste. Ein absoluter Höhepunkt der Sammlung ist die «Konservierung eines Buddhas»: Eine Statue wird unter sehr grossem Aufwand auf die Reise in eine spezialisierte Werkstatt geschickt und dann einer systematischen Restauration unterzogen. Makellose, grossartige Erzählung.

«Seiobo auf Erden» sind mehr als 450 Seiten hochkonzentrierte Prosa, mit anspruchsvollen Exkursen etwa in die russische Ikonenmalerei oder in das alttestamentarische Buch Esther. Es mag den Lesenden zuweilen so ergehen wie dem Besucher der Alhambra in der Erzählung «Ferne Vollmacht», einer Feier der arabischen Hoch-Kultur, die sich im Grenada des 13. Und 14. Jahrhunderts im Prachtbau manifestiert: Er unterliegt einer ästhetischen Überwältigung. Es empfiehlt sich, die Erzählungen jede für sich zu lesen und sich Zeit zu lassen. Dann aber bietet László Krasznahorkai mit diesem Band ein lange nachklingendes Lektüre-Erlebnis.
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Zitat & Kommentar #26

22.11.2025

Ross Douthat : Peter Thiel and the Antichrist

Kommentar Moritz Th.

Peter Thiel and the Antichrist_Interesting Times_Podcast_38’20»

https://www.youtube.com/watch?v=vV7YgnPUxcU

«Interesting Times», Podcast by Ross Douthat

38’ 20’’
*
Ross Douthat: You would prefer the human race to endure. Right?
*
Peter Thiel: Ah…
*
RD: You’re hesitating.

PT: Well, I would, I would…

RD: This is a long hesitation!

PT: There is so many questions…

RD: (interrupting): Should the human race survive?

PT: Yes. But…

(Deutsche Übersetzung:)

Ross Douthat: Sie würden es vorziehen, dass die Menschheit weiterbesteht. Richtig?

PeterThiel: Ah…

RD: Sie zögern.

PT: Nun, ich würde, ich würde…

RD: Das ist ein langes Zögern!

PT: Da gibt es so viele Fragen…

RD (unterbricht): Sollte die Menschheit überleben?

PT: Ja. Aber…

Kommentar

Peter Thiel ist Tech-Investor, Milliardär und einer der Vordenker des Silicon Valley, der Donald Trump bereits in der Präsidentschaftswahl 2016 unterstützt hatte. Damals war er ein Aussenseiter im zwar libertär-staatskritischen, aber den Demokraten zuneigenden Milieu der Gründer von Google, Facebook & Co. Heute scheinen manche seiner Positionen im Silicon Valley mehrheitsfähig, und man kann nur spekulieren, inwieweit er die US-Regierung beeinflusst – der US-Vizepräsident und Neo-Katholik J.D. Vance ist früh und massiv von Thiel gefördert worden.
Thiel redet zu Beginn des Interviews viel von Stagnation in den letzten 50 Jahren. Das mag auf den ersten Blick erstaunen, aber tatsächlich haben sich einige hoffnungsvolle Projektionen aus dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts nicht erfüllt, trotz Internet und Smartphone. Thiel zitiert den langsamen Fortschritt in der Demenzforschung als Beispiel.
Im Lauf des Interviews zeigt sich aber, dass Thiel eigentlich von einer viel grundlegenderen, existenziellen Stagnation redet, die es zu beenden gilt: Die Überwindung der Sterblichkeit, die Verwandlung des Menschen in etwas Transhumanes.
Dies erklärt das lange Zögern Thiels in der zitierten Interviewpassage, auf die scheinbar leicht zu beantwortende Frage, ob er möchte, dass die Menschheit überdauern soll. Als er sich endlich zu einem Ja durchringt, folgt ein gewichtiges Aber: Überleben ja, aber wir sollten uns radikal verändern. Es mag nun überraschen, dass damit nicht nur eine durch das Silicon Valley induzierte technologische Transformation gemeint ist, sondern dass es Thiel auch um eine Verwandlung im biblischen Sinne geht. Thiel hat das Ende der Zeiten im Blick, er sieht den Anti-Christen heraufziehen, in Form des Weltstaats. Erste Vorboten sind die UNO und die WHO – und Greta Thunberg, die Thiel mehrfach nennt.
Was dagegen hilft? Disruption, Überwindung der Stagnation, Ausfechten des End-Kampfes zwischen Gut (die technischen Innovatoren des Silicon Valley und die rechtgläubigen Christen) und Böse (die woke staatsversessene Linke). Dieses Denken in Endzeit-Kategorien scheint auf Leute wie Thiel beträchtliche Anziehungskraft auszuüben, das Ende der Weltzeit fällt dann zusammen mit dem Ende der persönlichen Lebenszeit.

Wenn man nach Thiels anti-liberalen, fundamentalistischen Wurzeln fragt, stösst man auf den für ihn wichtigen deutsch-amerikanischen Philosophen Leo Strauss (1899 – 1973), der die Notwendigkeit einer übergeordneten, sprich göttlichen Instanz diskutierte, die allein für die wahre Gerechtigkeit sorgen kann.
Peter Thiel erscheint in diesem Interview als – einflussreicher – Apokalyptiker, der den von ihm geförderten technologischen Fortschritt in den Dienst einer christlich-fundamentalistischen Weltsicht stellt.

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