Dunkelblum
Autor:
Eva Menasse
Verlag: btb
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2023
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-442-77281-0
Einbandart: Taschenbuch
Seitenzahl: 528
Sprache: Deutsch
Besprechung
Berthold H.
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Besprechung
Die Vorfahren „safteln“, so sagt es der leutselige Graf. Er stattet dem österreichischen Dorf Dunkelblum wieder einmal einen Besuch ab, das seine Mutter, die alte Gräfin, schon vor Jahrzehnten verlassen hatte, nachdem das Schloss bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Der Graf will die Abdichtung der leckgeschlagenen Gruft besorgen lassen und den Toten des Grafengeschlechts ihre ewige Ruhe zurückgeben.
In Dunkelblum ist die Ankunft des Grafen ein Ereignis, thronten seine Vorfahren doch Jahrhunderte in ihrem Schloss oberhalb von Dunkelblum: Dorfbewohner strömen herbei, es werden Festkleider angelegt, Empfänge organisiert, und Reden gehalten. Zur gleichen Zeit lädt der alte Ferbenz, eines der Dorfurgesteine mit eigener Fangemeinde und schillernder Geschichte, mit grossangelegten Plakataktionen zum allgemeinen Frühschoppen ins Café Posauner. Ist das etwa als eine Gegenveranstaltung zu verstehen? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Dunkelblum ist abgelegen und grenznah, quasi isoliert vom Rest der Welt. Vom nahen Ausland spricht man nur als dem „Drüberischen“. Weinanbau hat eine lange Tradition in Dunkelblum, das Trinken auch. Letzteres wirkt mitunter lebensverkürzend und sorgt zuweilen dafür, dass der eine oder die andere es verfrüht in den Holzpyjama schafft, womit im Dunkelblumschen Sprachgebrauch der Sarg gemeint ist.
Eines Tages kommt ein älterer Mann, ein Historiker, der über viele Jahre an einer amerikanischen Universität gelehrt hat, ins Dorf und quartiert sich über Wochen im Hotel Tüffer ein. Er geht durchs Dorf, grüsst die Menschen freundlich, spricht sie offenherzig an und zeigt sich interessiert – in Dunklelblum ist das ungewöhnlich und nicht gern gesehen. Dann finden seit einiger Zeit Arbeiten auf dem praktisch vergessenen jüdischen Friedhof statt, wo Studierende aus der Stadt die Gräber von üppig wucherndem Unkraut befreien und die Grabsteine wieder sichtbar machen. Diese Arbeiten werden von einer Studentin mit einer Kamera feinsäuberlich dokumentiert. Was hat es damit auf sich, was soll das? Und wer bezahlt das Ganze überhaupt? Als man schliesslich noch bei einer Grabung auf einer Wiese, die im Rahmen einer verbissenen Debatte um die zukünftige Wasserversorgung von Dunkelblum durchgeführt wird, auf menschliche Überreste stösst, ist die Aufregung gross. Ist man vielleicht auf ein Massengrab aus dem Zweiten Weltkrieg gestossen? Oder handelt es sich um die Gebeine des Opfers eines unaufgeklärten Mordes, der vor Jahren begangen wurde? Hängen die merkwürdigen Vorgänge im Dorf gar alle miteinander zusammen? In gewissen Kreisen kommt Nervosität auf. Es verdichten sich die Anzeichen, dass bedeutende Dinge im Verborgenen liegen – und genau dort würden die genannten Kreise sie auch gern belassen wollen.
Das Geheimnis und der Versuch, es, je nach Perspektive, zu wahren oder zu lüften, ist der Dreh- und Angelpunkt im Roman von Eva Menasse. Dabei wird es manches Mal regelrecht erkenntnistheoretisch, wenn es darum geht zu ergründen, was wirklich war. Inwieweit kann man Erinnerungen trauen? So verzweifelt der selbsternannte Dorfchronist Rehberg nahezu, als er Unstimmigkeiten in seinen eigenen, als glasklar empfundenen Erinnerungen gewahr wird, und setzt seine Massstäbe in punkto akribischer Recherche immer weiter herauf – und trotzdem kann auch der überaus redliche Perfektionist gewisse Begebenheiten nicht anerkennen, die sich nicht in sein Bild der eigenen Familie fügen wollen.
Gekonnt führt die Autorin auf beiläufige Weise vor Augen, zu welchen grotesken Verzerrungen das menschliche Erinnerungsvermögen in der Lage ist.
Jede Figur ist mit ihren Eigentümlichkeiten fein gezeichnet, die allwissende Erzählerin begibt sich ein ums andere Mal in deren Innenwelt, als würde der Roman aus diversen Erste-Person-Perspektiven erzählt werden. Es ist ein Genuss, wie die Autorin jeweils den Ton ihrer Figuren trifft, selbst dann, wenn sie deren Rede nur indirekt wiedergibt. Was den menschlichen Charakter angeht, gibt sich die Erzählerin keinerlei Illusionen hin. Dabei kommt es ihr aber nicht in den Sinn, ihre Figuren in irgendeiner Hinsicht zu verurteilen.
Der Dorfkosmos erschliesst sich nach und nach, und es schälen sich allmählich, ausgehend von den Figuren, den gegenwärtigen Ereignissen, den Familien und Fraktionen im Dorf immer deutlicher die Konturen eines Gesamtbildes heraus, in dem plötzlich auch die Rolle Dunkelblums im Kontext von wahrlich welthistorischen Ereignissen aufscheint.
Die Lektüre des umfangreichen Romans von Eva Menasse erweist sich als kurzweilig, da er den Leser glänzend unterhält, mit feinen Beobachtungen, der messerscharfen Analyse psychologischer Muster, der wunderbaren, mit Dialektausdrücken durchsetzten Sprache und vielen brillanten und mitunter herrlich zynischen Formulierungen.
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In Dunkelblum ist die Ankunft des Grafen ein Ereignis, thronten seine Vorfahren doch Jahrhunderte in ihrem Schloss oberhalb von Dunkelblum: Dorfbewohner strömen herbei, es werden Festkleider angelegt, Empfänge organisiert, und Reden gehalten. Zur gleichen Zeit lädt der alte Ferbenz, eines der Dorfurgesteine mit eigener Fangemeinde und schillernder Geschichte, mit grossangelegten Plakataktionen zum allgemeinen Frühschoppen ins Café Posauner. Ist das etwa als eine Gegenveranstaltung zu verstehen? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Dunkelblum ist abgelegen und grenznah, quasi isoliert vom Rest der Welt. Vom nahen Ausland spricht man nur als dem „Drüberischen“. Weinanbau hat eine lange Tradition in Dunkelblum, das Trinken auch. Letzteres wirkt mitunter lebensverkürzend und sorgt zuweilen dafür, dass der eine oder die andere es verfrüht in den Holzpyjama schafft, womit im Dunkelblumschen Sprachgebrauch der Sarg gemeint ist.
Eines Tages kommt ein älterer Mann, ein Historiker, der über viele Jahre an einer amerikanischen Universität gelehrt hat, ins Dorf und quartiert sich über Wochen im Hotel Tüffer ein. Er geht durchs Dorf, grüsst die Menschen freundlich, spricht sie offenherzig an und zeigt sich interessiert – in Dunklelblum ist das ungewöhnlich und nicht gern gesehen. Dann finden seit einiger Zeit Arbeiten auf dem praktisch vergessenen jüdischen Friedhof statt, wo Studierende aus der Stadt die Gräber von üppig wucherndem Unkraut befreien und die Grabsteine wieder sichtbar machen. Diese Arbeiten werden von einer Studentin mit einer Kamera feinsäuberlich dokumentiert. Was hat es damit auf sich, was soll das? Und wer bezahlt das Ganze überhaupt? Als man schliesslich noch bei einer Grabung auf einer Wiese, die im Rahmen einer verbissenen Debatte um die zukünftige Wasserversorgung von Dunkelblum durchgeführt wird, auf menschliche Überreste stösst, ist die Aufregung gross. Ist man vielleicht auf ein Massengrab aus dem Zweiten Weltkrieg gestossen? Oder handelt es sich um die Gebeine des Opfers eines unaufgeklärten Mordes, der vor Jahren begangen wurde? Hängen die merkwürdigen Vorgänge im Dorf gar alle miteinander zusammen? In gewissen Kreisen kommt Nervosität auf. Es verdichten sich die Anzeichen, dass bedeutende Dinge im Verborgenen liegen – und genau dort würden die genannten Kreise sie auch gern belassen wollen.
Das Geheimnis und der Versuch, es, je nach Perspektive, zu wahren oder zu lüften, ist der Dreh- und Angelpunkt im Roman von Eva Menasse. Dabei wird es manches Mal regelrecht erkenntnistheoretisch, wenn es darum geht zu ergründen, was wirklich war. Inwieweit kann man Erinnerungen trauen? So verzweifelt der selbsternannte Dorfchronist Rehberg nahezu, als er Unstimmigkeiten in seinen eigenen, als glasklar empfundenen Erinnerungen gewahr wird, und setzt seine Massstäbe in punkto akribischer Recherche immer weiter herauf – und trotzdem kann auch der überaus redliche Perfektionist gewisse Begebenheiten nicht anerkennen, die sich nicht in sein Bild der eigenen Familie fügen wollen.
Gekonnt führt die Autorin auf beiläufige Weise vor Augen, zu welchen grotesken Verzerrungen das menschliche Erinnerungsvermögen in der Lage ist.
Jede Figur ist mit ihren Eigentümlichkeiten fein gezeichnet, die allwissende Erzählerin begibt sich ein ums andere Mal in deren Innenwelt, als würde der Roman aus diversen Erste-Person-Perspektiven erzählt werden. Es ist ein Genuss, wie die Autorin jeweils den Ton ihrer Figuren trifft, selbst dann, wenn sie deren Rede nur indirekt wiedergibt. Was den menschlichen Charakter angeht, gibt sich die Erzählerin keinerlei Illusionen hin. Dabei kommt es ihr aber nicht in den Sinn, ihre Figuren in irgendeiner Hinsicht zu verurteilen.
Der Dorfkosmos erschliesst sich nach und nach, und es schälen sich allmählich, ausgehend von den Figuren, den gegenwärtigen Ereignissen, den Familien und Fraktionen im Dorf immer deutlicher die Konturen eines Gesamtbildes heraus, in dem plötzlich auch die Rolle Dunkelblums im Kontext von wahrlich welthistorischen Ereignissen aufscheint.
Die Lektüre des umfangreichen Romans von Eva Menasse erweist sich als kurzweilig, da er den Leser glänzend unterhält, mit feinen Beobachtungen, der messerscharfen Analyse psychologischer Muster, der wunderbaren, mit Dialektausdrücken durchsetzten Sprache und vielen brillanten und mitunter herrlich zynischen Formulierungen.
Kommentar
Ein Reisender ist nicht einfach einer, der Eindrücke empfängt und, wenn er ein Schriftsteller wie Paul Theroux ist, Aufzeichnungen macht. Was er erlebt, was er sieht, wie er selbst gesehen wird, lässt den Reisenden sein eigenes Leben reflektieren.
Je exotischer aber die Umgebung, desto weniger stark wird der Zwang zum Rückbezug auf das eigene Leben, auf den Alltag zuhause, desto mehr geht der Reisende auf in der Fremde. Man könnte zugespitzt auch formulieren: desto einfacher wird es, das Reiseerlebnis zu konsumieren (auch wenn das zulasten des Reise-Komforts geht).
Theroux analysiert, warum er die abgelegenen Schauplätze bevorzugt, warum er lieber in heruntergekommenen Städten verweilt, in dreckigen Zügen reist und in lausigen Hotels schläft. Und warum ihm nach den Erfahrungen in verarmten Landstrichen Guatemalas ein Unbehagen befällt in der vergleichsweise komfortablen Hauptstadt Costa Ricas, in San José.
Hier ist das Alltagsleben gar nicht so verschieden ist von demjenigen im heimischen Massachusetts. Es erinnert den Reisenden daran, dass es auch seine Lebenszeit ist, die hier verrinnt, er hat ein Leben zurückgelassen in den USA, das er in der Reisezeit hätte weiter aufbauen können. Er beobachtet, wie ein Paar einen Staubsauger auswählt, und diese Alltagszene löst Schuld- und Heimwehgefühle aus: „I saw a young couple picking out a vacuum cleaner, and I felt guilty and homesick.“ (p. 220)
Man schleppt sein Ich immer mit, es gibt auch auf Reisen nur momentweise eine Auszeit vom eigenen Leben, auch wenn es initial dieser Aspekt sein mag, der die Reiselust befeuert. Es zeichnet Theroux’ Text aus, dass er solche Mechanismen reflektiert, und nicht nur von den exotischen Schauplätzen berichtet und uns mit Anekdoten aus der Fremde unterhält.