Der Mensch als von Natur aus kooperatives und politisches Lebewesen
Implikationen eines Dialogs zwischen Aristoteles und Michael Tomasello für eine interdisziplinäre Erforschung menschlicher Kognition.
Autor: Benjamin Reimann
D I S S E R T A T I O N
Zitierfähige Url:https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa2-720593
Tomasellos Forschung zur Anthropologie erfüllt somit beide oben aufgeführten Kriterien
einer differenziellen Anthropologie – auch wenn er sich selbst nicht dieser Bezeichnung
bedient. Sie erfolgt interdisziplinär und nicht reduktionistisch. Doch fällt seine Arbeit
damit nicht in alte dualistische Konzepte zurück, denn sein Erklärungsanspruch ist es, eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens51 zu entwickeln, was bedeutet, dass er die menschliche Kognition als Wirkung der menschlichen Evolution erklären und somit als natürlich gewachsenes Phänomen darstellen möchte. Dabei findet er in der Differenzierung der Terminologie einen Lösungsweg zur Überwindung der Dualismus-Reduktionismus-Dichotomie.
Diese wird aufgelöst, indem sich Tomasello eines sprachphilosophischen Kniffs bedient. Er postuliert eine einzige evolutionäre Anpassung des Menschen – die Hypothese geteilter
Intentionalität, später kollektiver Intentionalität –, welche die gesamte menschliche
Kognition revolutioniert.52 Nach dieser Revolution reicht ein Begriffsvokabular, welches
alleine auf biologischen Begriffen beruht und Neuronen und Gene als Stein der Weisen
glorifiziert, nicht mehr aus um die Kognition des Menschen adäquat zu beschreiben.
Trotzdem bleibt die Beschreibung des Ursprungs der kognitiven Leistung des Menschen
durch natürliche Begriffe möglich. Kognition wird somit als natürlich gewachsenes
Phänomen verstanden, das eine vollkommen andere, von der Natur differenzierende,
Begrifflichkeit zu seiner Beschreibung benötigt. Dies wird schon allein dadurch ersichtlich, dass sich Tomasello zur Formulierung seiner zentralen These des Begriffs der
Intentionalität bedient, der spätestens seit Franz Brentano53 ein klassischer
geisteswissenschaftlicher Terminus ist.
In seiner Ausarbeitung einer differenziellen Anthropologie widerlegt Tomasello weiterhin
reduktionistisch verfahrende Theorien beziehungsweise spricht ihnen ihren allgemeinen
Erklärungsanspruch ab und weist ihnen ihren Zweck im Kontext einzelwissenschaftlicher
Betrachtungen zu – differenziert also im oben genannten Sinne. Exemplarisch dient dafür
seine Argumentation gegen kognitive Modultheorien – namentlich von John Tooby und
Leda Cosmides. Diese behaupten, dass sich Kognition modular entwickelte und sich diese
Module im genetischen Erbgut abgebildet finden. So gibt es beispielsweise Module für
Sprache neben Modulen für Mathematik und Musik. Tomasello zeigt auf, dass die
Beschreibung der menschlichen Kognition als „Schweizer Taschenmesser“54 durchaus als
Propädeutik der kognitiven Psychologie nützlich sein kann, sie aber versagt, wenn es um
die Erklärung der Entstehung der menschlichen Kognition geht. Zumal sich diese
vermeintlichen Module teilweise überschneiden, sich gemeinsam weiter entwickeln und
sich durch den Gebrauch von Sprache, Zeichen und dem Erlernen von zu Grunde
liegenden Normen grundlegend revolutionieren.
Rs Ausführungen scheinen mir wichtig:
- um Ts Argumentationsweise zu verstehen,
- um einige Gründe meines Bauchwehs bzgl. T Methodologie zu verstehen,
- um mein grundsätzliches Interesse an diesem ‚Übergang‘, aber auch meine diesbezüglichen Schwierigkeiten auszuleuchten
Aber auch nach mehrmaliger Lektüre dieses Abschnitts, weiss ich immer noch nicht, wie ich Rs Darlegung verstehen bzw. Ts sprachphilosophischen Kniff bewerten soll:
- Ist der Kniff ein Taschenspielertrich, der mich zum Getäuschten macht?
- Ist der Kniff ein sprachlich oder methodisch geschicktes Vorgehen, um eine Aufgabe einer (echten?) Lösung zuzuführen?
Das von R (auf Seite 25) wiedergegebene Zitat ist vor mich nur parziell einleuchtend:
„[S]ie versuchen, von der ersten Seite der Geschichte, nämlich der Genetik, zur
letzten Seite, der gegenwärtigen menschlichen Kognition zu springen, ohne
einen Blick auf die dazwischenliegenden Seiten zu werfen. Diese Theoretiker
lassen somit in vielen Fällen formgebende Elemente sowohl des
geschichtlichen als auch des ontogenetischen Zeitrahmens außer Betracht, die
zwischen dem menschlichen Genotyp und Phänotyp eingeschaltet sind.“58
Aus evolutiontheoretischer Sicht kann ich T nur beipflichten, dass (biologische) Evolution in kleinen Schritten erfolgt, dass in der menschlichen Ontogenese vermehrt auftretende ‚Lernfenster‘ entstehen, dass ko-evolutionäre Wechselwirkungen zu berücksichtigen sind. Aber all diese Prozesse müssen von den entsprechenden Wissenschaften BESCHRIEBEN werden. Wie soll das bewerkstelligt werden? Müssen zwischen das (kausale) naturwissenschaftliche und das (intentionale) gesteswiss. Sprachspiel feinst differnzierte, neue (für mich noch namenlose) Sprachspiel er/gefunden werden?
Da hoff ich auf die andern Gruppenmitglieder, dass die mehr davon haben: mehr Gehirnvermögen oder doch eher Denkvermögen!
Vielleicht müssen wir einfach geduldig sein: R hat ja noch etliche Kapitel geschrieben!
Die Frage nach den natur- und geisteswissenschasftlichen Sprachspielen ist sicher ein zentraler Punkt, ich bin allerdings skeptisch, ob uns R hier weiterführende Antworten liefern wird.
Ich bin mir auch nicht ganz sicher, wie das mit T.’s Kniff zu verstehen ist: meint R, T. habe die Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaft überbrückt, indem er einen neuen Terminuns (geteilte/kollektive Intentionalität) eingeführt hat, und somit vor allem den Reduktionisten das Wasser abgegraben hat? Mir reicht das noch nicht ganz, zumal doch denkbar wäre, dass sich irgendwelche findigen Reduktionisten etwas Schlaues einfallen lassen und eine Möglichkeit anbieten, wie man auch den Begriff/das Phänomen geteilter Itentionalität reduieren kann.
Darüber hinaus finde ich es nicht selbsterklärend,was eine „von der Natur differenzierende
Begrifflichkeit“, die man zur Beschreibung von Kognition benötige, sein soll. Mir ist das Ganze etwas auf zu sehr anti-reduktionistisch gebürstet, weil es ohne Not geschieht bzw. weil die These, dass fruchtbares interdisziplinäres Arbeiten auf einer fundierten Grundlage zum Zwecke der Erlangung weitergehender Erkenntnisse unabdingbar ist, bereits als gegeben vorausgesetzt wird.