Besprechung für Dunkelblum
Die Vorfahren „safteln“, so sagt es der leutselige Graf. Er stattet dem Dorf Dunkelblum wieder einmal einen Besuch ab, das seine Mutter, die alte Gräfin schon vor Jahrzehnten verlassen hatte, nachdem das Schloss bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Der Graf will die Abdichtung der leckgeschlagenen Gruft besorgen lassen und den Toten des Grafengeschlechts ihre ewige Ruhe zurückgeben.
In Dunkelblum ist die Ankunft des Grafen ein Ereignis, thronten seine Vorfahren doch Jahrhunderte in ihrem Schloss oberhalb von Dunkelblum: Dorfbewohner strömen herbei, es werden Festkleider angelegt, Empfänge organisiert, und Reden gehalten. Zur gleichen Zeit lädt der alte Ferbenz, eines der Dorfurgesteine mit eigener Fangemeinde und schillernder Geschichte, mit grossangelegten Plakataktionen zum allgemeinen Frühschoppen ins Café Posauner. Ist das etwa als eine Gegenveranstaltung zu verstehen? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Dunkelblum ist abgelegen und grenznah, vom nahen Ausland spricht man nur als dem „Drüberischen“. Weinanbau hat eine lange Tradition in Dunkelblum, das Trinken auch. Letzteres wirkt mitunter lebensverkürzend und sorgt zuweilen dafür, dass der eine oder die andere es verfrüht in den Holzpyjama schafft, womit im Dunkelblumschen Sprachgebrauch der Sarg gemeint ist.
Ist Dunkelblum ein Dorf wie jedes andere auch? Ja und Nein. Durch die Abgelegenheit ist der Austausch mit der Umgebung überschaubar, von Dunkelblum und seiner Umgebung nimmt im Rest des Landes praktisch niemand Notiz.. Das Dorf ist wie ein Biotop, in dem Beziehungen, Seilschaften, Rivalitäten historisch gewachsen und in dem viele verwandt und verschwägert sind.
Eines Tages kommt ein älterer Mann, seine Zeichens Doktor der Geschichte, der über viele Jahre an einer amerikanischen Universität gelehrt hat, ins Dorf und quartiert sich über Wochen im Hotel Tüffer ein. Er geht durchs Dorf, grüsst die Menschen freundlich, spricht sie offenherzig an und zeigt sich interessiert – in Dunklelblum ist das ungewöhnlich und nicht gern gesehen. Dann finden seit einiger Zeit Arbeiten auf dem verwilderten und praktisch vergessenen jüdischen Friedhof statt, wo Studierende aus der Stadt die Gräber von üppig wucherndem Unkraut befreien und die Grabsteine wieder sichtbar machen. Diese Arbeiten werden von einer Studentin mit einer Kamera feinsäuberlich dokumentiert. Was hat es damit auf sich, was soll das? Und wer bezahlt das Ganze überhaupt? Als man schliesslich noch bei einer Grabung auf einer Wiese, die im Rahmen einer verbissenen Debatte um die zukünftige Wasserversorgung von Dunkelblum durchgeführt wird, auf menschliche Überreste stösst, ist die Aufregung gross. Dieser Fund sorgt für Unruhe und befördert Spekulationen. Ist man vielleicht auf ein Massengrab aus dem Zweiten Weltkrieg gestossen? Oder handelt es sich um die Gebeine des Opfers eines unaufgeklärten Mordes, der vor Jahren begangen wurde? Hängen die merkwürdigen Vorgänge im Dorf gar alle miteinander zusammen? In gewissen Kreisen kommt Nervosität auf. Es verdichten sich die Anzeichen, dass bedeutende Dinge im Verborgenen liegen – und genau dort würden die genannten Kreise sie auch gern belassen wollen.
Das Geheimnis und der Versuch, es, je nach Perspektive, zu wahren oder zu lüften, ist der Dreh- und Angelpunkt im Roman von Eva Menasse. Dabei wird es manches Mal regelrecht erkenntnistheoretisch, wenn es darum geht zu ergründen, was wirklich war. Inwieweit kann man Erinnerungen trauen? So verzweifelt der selbsternannte Dorfchronist Rehberg nahezu, als er Unstimmigkeiten in seinen eigenen, als glasklar empfundenen Erinnerungen gewahr wird, und setzt seine Massstäbe in punkto akribischer Recherche immer weiter herauf – und trotzdem kann auch der überaus redliche Perfektionist gewisse Begebenheiten nicht anerkennen, die sich nicht in sein Bild der eigenen Familie fügen wollen.
Gekonnt führt die Autorin auf beiläufige Weise vor Augen, zu welchen grotesken Verzerrungen das menschliche Erinnerungsvermögen in der Lage ist.
Jede Figur ist mit ihren Eigentümlichkeiten fein gezeichnet, die allwissende Erzählerin begibt sich ein ums andere Mal in deren Innenwelt, als würde der Roman aus diversen Erste-Person-Perspektiven erzählt werden. Es ist ein Genuss, wie die Autorin jeweils den Ton ihrer Figuren trifft, selbst dann, wenn sie deren Rede nur indirekt wiedergibt. Was den menschlichen Charakter angeht, gibt sich die Erzählerin keinerlei Illusionen hin. Es kommt ihr aber nicht in den Sinn, ihre Figuren in irgendeiner Hinsicht zu verurteilen.
Der gesamte Roman ist in einer leichten, lockeren, mitunter fast geschwätzigen, aber ungemein treffenden Weise erzählt. Wäre die Erzählerin eine Berlinerin, würde man von der Berliner Schnauze sprechen, da wir es aber mit Österreich zu tun haben, kann man es vielleicht Wiener Schmäh nennen, auch wenn die Handlung meist in Dunkelblum selbst verortet ist. Die Sprache ist mit unzähligen Dialekteigenarten durchsetzt, wodurch man den Figuren und dem gesamten Dorfgeschehen noch einmal näherkommt. Zur Entschlüsselung ist ein Glossar am Ende des Buches nützlich, wobei sich vieles auch von selbst erklärt.
Die Dramaturgie ist meisterhaft. Die örtliche Einordnung bleibt lange im Vagen – so ist etwa immer wieder von der Stadt die Rede, die zwar fern, aber nicht unendlich weit weg ist, bis man aus dem Munde von Frau Sterkowitz, der Gattin des Dorfarztes, erstmals nach knapp 200 Seiten ganz beiläufig von Wien hört, als hätte sie sich verplappert. Ähnlich verhält es sich mit der zeitlichen Dimension, in er es zu vielen Rückblenden in die jungen Jahre von einzelnen Romanfiguren oder in die Dorfgeschichte kommt, die auch überaus finstere Kapitel aufweist.
Der Dorfkosmos erschliesst sich nach und nach, und es schälen sich ganz allmählich, ausgehend von den Figuren, den gegenwärtigen Ereignissen, den Familien und Fraktionen im Dorf immer deutlicher die Konturen eines Gesamtbildes heraus, in dem plötzlich auch die Rolle Dunkelblums im Kontext von wahrlich welthistorischen Ereignissen aufscheint.
Die Lektüre des umfangreichen Romans von Eva Menasse erweist sich als kurzweilig, da er den Leser glänzend unterhält, mit feinen Beobachtungen, der messerscharfen Analyse psychologischer Muster, der wunderbaren, mit Dialektausdrücken durchsetzten Sprache und vielen brillanten und mitunter herrlich zynischen Formulierungen.