Besprechung für Das Philosophenschiff
Eine Hundertjährige erzählt einem Schriftsteller, wie sie als 14-jährige 1922 mit ihren Eltern Russland auf einem «Philosophenschiff» verlassen musste. Die Sowjets verschifften damals potentiell oppositionell gesinnte Intelligenzija einfach ins Ausland, wie Sondermüll, aber im Rückblick erscheint diese Geste als eher untypisch human für das leninistische und bald stalinistische Regime.
Anouk Perleman-Jacob heisst die sehr alte Frau, die als Architektin Karriere in den USA und Europa gemacht hatte. Sie ist eine erfundene Figur inmitten historischer Figuren: Im Exil trifft sie die Schriftstellerin Nina Berberova, ihre Eltern waren befreundet mit dem Dichter Nikolai Gumiljow, der 1921 als Konterrevolutionär von den Sowjets erschossen wurde. Diese Freundschaft ist vielleicht der Grund, warum sich die Familie auf dem Philosophenschiff wiederfindet. Die sehr junge Anouk begegnet auf diesem Schiff dem schwer kranken Lenin, der sich einige Abende lang mit ihr unterhält. Ganz zum Schluss belauscht sie dann noch, wie in dieser Parallelwelt ein anderer prominenter, schnauzbärtiger Bolschewist mit dem offensichtlich abgehalfterten Lenin abrechnet. Bolschewist heisst «Mehrheitler», der Name geht zurück auf eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den Kommunisten gegen die Sozialrevolutionäre, die «Minderheitler» oder Menschewiki, gewonnene Abstimmung. Eine Pointe der Abrechnung mit Lenin: sein Opponent hält ihm vor, dass Lenin nie verstanden habe, was das breite Volk, was die Mehrheit wünscht, und vor allem: was für eine Dynamik und Gewalt jemand zu entfesseln imstande ist, der mit der Stimme dieser Mehrheit spricht.
Diese Begegnungen auf dem Schiff zählen zu den besten, dichtesten Kapiteln des Romans. Dagegen fallen die konstruiert wirkende Vita der Architektin mit einem Aufenthalt in Texas, und die wenigen Episoden aus dem Leben des Ich-Erzählers, des Schriftstellers, etwas ab. Er erzählt uns von einem Freund, der in den 1970er Jahren aus dem «Kommunistischen Bund Westdeutschlands» (KBW) austrat und dafür von seinen Ex-Genossen auf merkwürdige Art bestraft wurde. Warum uns das berichtet wird, erschliesst sich nicht so recht. Kontinuität des stalinistischen Terrors, aber jetzt als Farce? Auch die Rahmenhandlung mit den Besuchen des Schriftstellers bei der uralten Anouk Perleman-Jakob vermögen nicht so ganz zu überzeugen. Sie bestellt den Schriftsteller zu sich, nur um ihn dann anzulügen, respektive um mit der Wahrheit scheibchenweise rauszurücken, als hätte sie alle Zeit der Welt. Und warum soll es uns interessieren, dass der Schriftsteller zuhause von seiner Frau Monika erwartet wird?
Gern hätten wir mehr von der Atmosphäre auf dem Philosophenschiff erfahren, und vom Leben der russischen Intelligenzija in der (nach-) revolutionären Epoche.