Der Mensch als von Natur aus kooperatives und politisches Lebewesen

Implikationen eines Dialogs zwischen Aristoteles und Michael Tomasello für eine interdisziplinäre Erforschung menschlicher Kognition.

Autor: Benjamin Reimann

D I S S E R T A T I O N

Zitierfähige Url:https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa2-720593

SEITE: 31-37 ad.valsan 3 Kommentare
Stelle:

Kapitel 2.1.3, vor allem mit Fokus auf Rs Darstellung der methodischen Diskussionen zwischen T und Boesch, sowie Rs diesbezügliche Interpretationen.

Insbesondere:

S. 34:
Selbst wenn man jedoch Boeschs Einwand ohne Einschränkungen anerkennen sollte, zeigt sich ein erheblicher qualitativer Unterschied zwischen den Kooperationsformen der Schimpansen und denen der Menschen: Während die vermeintliche Kooperation der Großaffen extrem situationsbezogen, sehr selten und zudem sehr kurzlebig zu sein scheint, ist die Kooperation von Homo Sapiens viel universeller und langlebiger.94 Es gäbe also noch immer genug Grund, um an einem wesentlichen Unterschied zwischen den Arten fest zu halten.

S. 37:
Sollte aller Vermutung zum Trotz dennoch ein echtes stabiles Verhalten gemeinsamer
Intentionalität bei nichtmenschlichen Primaten beobachtet werden, dass jeglicher
Gegenkritik Stand hält, wäre Tomasellos Unterfangen zur anthropologischen Differenz
dennoch nicht gänzlich gescheitert. In seinem 2014 erschienenen Werk Eine
Naturgeschichte des menschlichen Denkens106 bildet das Aufkommen der geteilten
Intentionalität nur eine Vorstufe in der Phylogenese des modernen Menschen, der sich
letztendlich durch seine Fähigkeit zur kollektiven Intentionalität auszeichnet.

Anmerkung:

Meine nachfolgenden Gedanken sind nicht ein FAZIT, sondern eine ERLÄUTERUNG der methodischen Schwierigkeiten der Forschungsfeldes von T und Boesch.

T will eine Naturgeschichte schreiben. Explizit folgt das auch aus seinen früheren Büchern: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens 2014 und Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral 2016.

Was aber heisste es, eine Naturgeschichte zu schreiben? Das heisst, durch Analyse von Überkommnissen vergangene Prozesse/Strukturen/Entitäten zu rekonstruieren; was ausschliesslich sprachlich möglich ist! Überkommnisse sind heute vorfindbare Naturgegenstände, die als Etwas interpretiert werden, das die vergangene Zeit (hinreichend unbeschädigt) überdauert hat und mir daher Prozesse/Strukturen/Entitäten aus der Vergangenheit erschliessbar macht. Ein lebensweltlicher Vergleich: es ist die Arbeitsweise eines Detektivs!

Überkommnisse für Ts Forschungsfeld – Kognition bzw. Verhalten – konservieren sich leider verd… schlecht. Darum spricht R auch von Spekulation – siehe Seite 45f

Ich will nun eine ebensolche Spekulation entwerfen, um die Problematik solcher Forschung zu verdeutlichen – ich mach das auf eher witzige Art, aber dennoch mit absolut ernster Absicht:

Es ist das Jahr 102’002: Chichi Pimpi,  Prof. für Panologie, spezialisiert auf die Naturgeschichte seiner Art, Pan Troglodytes, sitzt in seinem Baumhaus. Er hat in Katakomben mit Zeichen übersähte und in Leder eingebundene Papiere gefunden, ein Exemplar hat die Jahrtausende besonders gut überstanden – wie Materialspezialisten vermuten, dank des Goldschnitts. Mit Hilfe von Computerprogrammen ist es Prof. Pimpi gelungen, die von der ausgestorbenen Art (Homo Sapiens) stammenden Überkommnisse zu interpretieren. Er stösst auch auf Beschreibungen von Feldforschungen im Regenwald der Elfenbeinküste. Hier wird Prof. Pimpi hellhörig, ja er ist geradezu elektrisiert: Von diesem Gebiet stammen die frühesten Vorfahren seiner Art, die Frü-Pane, was durch ausgeklügelte Recherchen und Höhlenfunde belegt werden konnte. Mit fortschreitender Lektüre im gefundenen Überkommnis (die Homo nannten es ‚Buch‘) empört sich Prof. Pimpi zusehends: „Was behauptet dieser Tomasello? Wir wären nicht zu gemeinsamer Intentionalität fähig? Vor 100’000 Jahren – wir wurden damals von Homo Sapiens bezüglich unserer Nahrungsgrundlagen arg bedrängt – haben wir doch nach und nach gelernt, uns über Trommelzeichen bezüglich des Vorgehens bei der Jagt zu verständigen. Hätte der Boesch doch gründlicher hingehört, als nur hingeschaut. Wir waren doch damals gerade ’süüferli‘ dran, eine gemeinsame Intentionalität zu entwickeln. Je mehr die Homos uns damals die Nahrung zerstörten, im so intensiver mussten wir den Panini unsere Trommel-Codes beibringen… Prof. Pan entscheidet sich, morgen in Wikipania einen Eintrag zu verfassen: Boesch hatte doch recht!

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Moritz T.

Begrüssenswert, dass hier die Ausstattung eines Buches in angemessener Weise gewürdigt wird comment image?ezimgfmt=rs:60×60/rscb20/ng:webp/ngcb20 , Argumente für Leder und Goldschnitt.

Ich tue mich gerade ein bisschen schwer zu verstehen, warum die evolutionäre Perspektive im Sinn einer (lückenlosen) Naturgeschichte so zentral ist für die Untersuchung.
In seinen Experimenten stellt Tomasello fest, dass sich die Menschen durch kollektive Intentionalität auszeichnen, die Menschenaffen nicht. Zugleich wissen wir, dass das Gengut der Menschen und der Menschenaffen nahezu identisch ist, wir gemeinsame Vorfahren haben.
Kann es nicht sein, dass sich die markante Differenz im Verhalten (Ausbildung von Kultur bei den Menschen) tatsächlich einfach dieser Fähigkeit zur kollektiven Intentionalität verdankt, mit dem entscheidenden Werkzeug der Sprache, über die Menschenaffen nicht verfügen? Spielt es da eine Rolle, ob es eine Zwischenstufe Fähigkeit zur „geteilten Intentionalität“ gegeben hat, über die Menschenaffen schon nicht mehr verfügt haben?

Oder ist die Feststellung, Menschen sind Wesen, die eine Kultur ausgebildet haben, basierend auf kollektiver Intentionalität trivial, „tautologisch“, wie Wolfgang Welsch meint (p. 43), wenn man sie nicht aus der Evolution herleiten kann?

Oder geht es gerade um die (für mich interessantere) Frage, warum die Fähigkeit der kollektiven Intentionalität und die damit einhergehende markante Differenz Menschenaffen/Menschen keine grösseren Spuren im Genom hinterlassen haben?

bheym

Danke für die amüsante Spekulation, Antonio! Als Science Fiction-Autor warst Du mir nich nicht bekannt!

Zu Moritz: Ich halte es für sinnvoll, die folgenden zwei Aspekte zu betrachten:

1) Wie sieht eine angemessene Beschreibung der menschlichen Fähigkeiten im Vergleich zu den tierischen Fähigkeiten aus?

2) Wie können wir plausibel nachzeichnen, wie es zu diesen menschlichen Fähigkeiten gekommen ist? Da die Evolutionstheorie den allgemein akzeptierten paradigmatischen Rahmen darstellt, finde ich es erhellend sich zu überlegen, wie sich die Fähigkeiten entwickelt haben und welche Zwischenschritte es da eventuell gegeben haben mag.

Ich finde den zweiten Aspekt relevant, weil er der Vorstellung entgegentritt, der Mensch sei etwas so Besonderes, das sich jeder evolutionstheoretischen Betrachtung entziehen würde. Ironsicherweise ist gerade dies ein auch von R. akzeptierter reduktionistischer Zugang, weil wir den Menschen als das (vorläufige) Ergebnis eines evolutionären Prozesses sehen, ohne dass wir irgendwelche Wunder zwischendurch annehmen müssten: Der Mensch fügt sich nahtlos ein in die Kette, die wir Evolution nennen.

Moritz T.

Auf Seite 47 begründet R, warum ein Zwischenschritt in der Evolution zwingend scheint: . „Ich finde es jedoch überaus überzeugend, die Herausbildung des Homo Sapiens von einer Zwischenstufe abhängig zu machen. Zumal es sonst fraglich wäre, warum Homo Sapiens erst vor 200’000 Jahren begann, Kulturen zu etablieren, die eindeutige Spuren kumulativer kultureller Evolution aufweisen.“

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