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Besprechung für Land der Winde

Moritz T. Keine Kommentare Kommentar hinzufügen
Besprechung:

Mehrere Jahre nach dem Tod seines Freundes Kaspar Baur besucht Rudolf Bindschädler Amrain, wo Baur zeitlebens gewohnt hatte. Bindschädler ist mit Amrain wohl vertraut, in den vorangegangenen Bänden der Tetralogie hatte ihm Baur immer wieder aus dem Dorfleben berichtet, und vor Jahrzehnten schon in Militär-Nachtmärschen.

Mit einer imaginierten Rede Baurs aus dem Grab, das Bindschädler als erstes aufsucht, hebt «Land der Winde» an. Baur positioniert sich darin als «aus der Müdigkeit kommend», gegen die Macher, aber auch gegen die «Herolde» (=Intellektuelle) von «neuen Eden»; als einer, der auf dem schwarzen Schimmel reitend (=Kunst machend, nach einer Definition seiner kleinen Enkelin) «hinter die sieben Berge» entkommt. Die Rede versammelt am Ende Schriftsteller, denen sich Baur verwandt fühlt, zu einer kleinen schwarzen Schimmel – Reiterarmee, etwas befremdlich; Dichternamen halten gern Abstand.

Bindschädler spaziert vom Friedhof durch Amrain, an Häusern vorbei und durch Strassen, die in den Erzählungen Baurs eine Rolle spielen. Er trinkt Kaffee in der «Kaffeehalle ‘Drei Linden’». Es ist ein Novembertag von «geradezu entsetzlicher Schönheit», die Gedanken schweifen ab zu Birken, nach Russland, das auch in «Land der Winde» eine prominente Rolle spielt. Das Russland von Tolstoi – «Krieg und Frieden» wird herangezogen, als handle es sich um tatsächliche Ereignisse und Gestalten, Geschichte, nicht Fiktion – und Cechov wird zitiert, vor allem aber wird wiederholt aus der Sowjetunion der Gegenwart berichtet (wir schreiben das Jahr 1988), den Hoffnungen und Frustrationen von Gorbatschows Perestroika. Andernorts scheint die Tetralogie zeitenthoben, hier ist sie durchlässiger für Zeitgeschichte; auch das damals viel diskutierte Waldsterben wird wiederum gestreift; was kaum erstaunt, Bäume sind von grosser Wichtigkeit, schon auf den ersten Seiten haben neben den Birken auch Eiche und Ulme ihren Auftritt.

Bindschädler phantasiert gar eine Anverwandlung, ein Aufgehen in einer Birke. Nähe zur Natur ist ein durchgängiges Motiv der Tetralogie. Bindschädler erschliesst aber nochmals eine andere Dimension:
«Nachdem ich den Kaffee bestellt hatte, überliess ich mich der Losgelöstheit von allen Dingen dieser Erde, sog die Luft ein, unauffällig natürlich, wie’s die Hunde tun, wenn es Frühling ist und Abend, und die Wildbahn offensteht, und hörte, unbehelligt von anderen Geräuschen, den grossen Klang.»
Der grosse Klang («aus dem Sternbild der Jagdhunde») steht hier für eine Verbundenheit, die über Mensch, Tier, Pflanze, über die Welt hinausgeht. Kunst wird an späterer Stelle von Bindschädler (Baur paraphrasierend) als «Nebenklang» des grossen Klangs bezeichnet. Die Gedanken, ja die Identitäten Baurs und Bindschädlers gehen zuweilen ineinander über.

Der Besuch bei Kaspar Baurs Witwe Katharina, der eine lange Passage des Buches einnimmt, zeitigt einen Dialog, bei dem Kaspar Baur stets präsent ist, ob nun Bindschädler oder zunehmend Katharina sprechen.
Bindschädler berichtet zunächst von der Rede Baurs aus dem Grab; Wiederholungen sind ein wichtiges Stilmittel der Tetralogie, hier wird die Rede schon nach rund 60 Seiten nochmals ausführlich zitiert, ohne dass für den Leser der neue Kontext zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringt.
Katharina erzählt von der Reise nach Israel, die in Band 3 der Tetralogie, der «Ballade vom Schneien» schon prominent figuriert, auf den Spuren von Jesus, als Höhepunkt des Lebens der Eheleute.

Zur Sprache kommen die Jahre der Fabrikarbeit Baurs, ihm bleibt das Wesen des Arbeiters fremd (er findet nicht heraus, wo sie ihren «Motor» haben), dasjenige des Arbeitgebers aber gar unheimlich:
«Unternehmer seien nicht so sehr mit Geschmack und Güte als vielmehr mit einem Übermass an Kräften ausgerüstet, was Ausschweifungen zeitige, Perversionen.»

Nach dem Essen, gemeinsamem Chopin-Hören und einem Pfefferminztee eilt Bindschädler zum Bahnhof. Der Schluss des Bands (und der Tetralogie) zeigt Bindschädler zuhause bei der Lektüre eines Briefes von Baur, der vom Besuch auf Rügen, dem «Land der Winde», Herkunftsort von Baurs Mutter, berichtet.

Bindschädler steht in der ganzen Tetralogie im Schatten von Baur, hier – nach Baurs Tod – tritt er ein wenig stärker hervor. Aber die Position Bindschädlers als eigenständige Person bleibt prekär, changierend, zum Verwechseln mit Baur.

Die Aussensicht Bindschädlers und Katharinas erlauben es, Baur etwas deutlicher als Chronist und zugleich Aussenseiter Amrains zu erkennen. Baur hat beobachtet, wie die Sommer, wie Siege und Niederlagen Spuren in den Gesichtern und in den sich krümmenden Rücken der Amrainer hinterlassen haben. In einer grossartigen Passage, die alle möglichen Umzüge zusammenzieht, vom Kindermasken- bis zum Güllewagen-Umzug wird auch ein Umzug der Amrainer Selbstmörder imaginiert, die damit eine (Re-) Integration erfahren.
Die Witwe Katharina meint, «Kaspar sei nicht unbedingt zum Leben geschaffen gewesen». Wenn sie durch die Stille flaniert seien, habe sie häufig das Gefühl gehabt, «er sei weg, der Kaspar».

Diese Lebensfremdheit korrespondiert aber mit dem weiten Horizont Baurs, geographisch und auf den Wahrnehmungsebenen, der auch diesen letzten Band der Tetralogie zu einer sehr lohnenswerten Lektüre macht.

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