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Besprechung für Migration

Matthias H. Keine Kommentare Kommentar hinzufügen
Besprechung:

Seit vielen Jahrzehnten sind migrationskritische Stimmen in Politik und Gesellschaft ein gängiges Phänomen und die Migration gemeinhin ein Aufregerthema. In den letzten Jahren scheint sich die Anti-Migrations-Stimmung überdies massiv verschärft zu haben. Migration ist zu einem der wichtigsten politischen Themen geworden, das in vielen Ländern zur Wahl rechtspopulistischer Regierungen und zu deutlichen Tendenzen einer Unterminierung der Demokratie beiträgt. Es sind aber nicht die Migranten, die die Demokratie gefährden, sondern die Unzufriedenheit und Verunsicherung großer Teile der Bevölkerung, die die Wirkungslosigkeit der Migrationspolitik beklagen und das Vertrauen in politische Institutionen zunehmend verloren haben. Der niederländische Migrationsforscher Hein de Haas zeigt in seinem außerordentlich lesenswerten und wichtigen Buch, dass diese Menschen vollkommen recht haben.

De Haas nimmt das Paradox zum Ausgangspunkt seines Buches, dass Politiker westlicher Länder seit Jahrzehnten die Kontrolle über die Migration und die Eindämmung der Zuwanderung versprechen, diese Kontrolle aber bis heute nicht gelungen ist und die politischen Maßnahmen gegen die Zuwanderung insgesamt weitgehend wirkungslos blieben. Selbst der Brexit, nicht zuletzt ein Ergebnis des Versprechens der Abschottung, hat die Migration nach Großbritannien nicht gestoppt, sondern ganz im Gegenteil von 2019 bis 2022 nahezu verdoppelt (S. 21 und 393). Auch die Einwanderungsbehörde in den USA, die den Großteil ihres Etats von 6 Milliarden Dollar in den Grenzschutz steckt und seit 1986 immer ausgefeiltere Zäune und Bewachungsmaßnahmen an der Grenze zu Mexiko installierte, habe nicht verhindert, dass seitdem 11 Millionen illegale Migranten in die USA gekommen sind und dort leben (S. 312). Warum also, fragt de Haas, gibt es nach Jahrzehnten politischer Bemühungen nach wie vor unveränderte oder sogar gestiegene Zahlen von legaler und illegaler Migration?

Die Hauptursache sieht de Haas im mangelnden Verständnis, falschen Vorstellungen und verfehlter Kommunikation über Migration. Mit diesen Vorstellungen versucht er in seinem umfassenden Buch aufzuräumen, indem er 22 verbreitete „Mythen“, wie er sie nennt, beschreibt und diesen den Stand des Wissens der Migrationswissenschaft entgegensetzt. De Haas möchte stattdessen ein „ganzheitliches Verständnis der Migration vermitteln“. Dieses Vorhaben gelingt ihm sehr überzeugend, allerdings mitunter sehr plakativ, manchmal auch etwas schlampig und unpräzise und sehr verallgemeinernd oder zu provokativ formuliert (z. B. wenn er Schleuser als „Dienstleister“ bezeichnet und damit die kriminellen, oft gefährlichen und zutiefst menschenverachtenden Machenschaften unterschlägt, siehe zu diesen Punkten auch die Rezension von Berthold Heymann, https://lesart.blog/migration/).

Bevor ich einige der wichtigsten Erkenntnisse kurz zusammenfassen möchte, ist aber einzuräumen, dass de Haas sein wichtigstes Ziel vermutlich nicht erreichen wird. Es ist nicht nur nicht zu erwarten, dass er diejenigen, die „Mythen“ über die Migration verbreiten oder ihnen Glauben schenken und daraus Überzeugungen und politische Energie generieren die rund 450 Seiten lesen werden. Eher dürften diese Leser das Buch bereits nach wenigen Seiten wieder aus der Hand legen (oder wahrscheinlicher niemals in die Hand nehmen). Denn de Haas Erkenntnisse ergeben ein deutlich migrationsfreundlicheres Bild, als es den derzeitigen Diskursen, politischen Verlautbarungen und gängigen Überzeugungen entspricht. Er geht überdies kaum auf die verbreiteten Ängste, Verunsicherungen und gefühlten oder realen Überforderungen ein (die er durchaus anspricht) und präsentiert auch nicht die von vielen erhoffte ‚Lösung‘ des Migrationsproblems. Ein weiterer Nachteil seiner umfassenden globalen Perspektive ist die oft geringe geographische Differenzierung. Da viele Erkenntnisse gleichwohl sehr wichtig sind, ist zu hoffen, dass Leser helfen, einige wichtige Botschaften nach und nach in die gesellschaftlichen und politischen Debatten zu tragen.

Die meines Erachtens wichtigste Botschaft des Buches ist, dass sich die Politik reicher Zielländer der Migration in einem „Trilemma“ befindet, wie de Haas es nennt. Dieses Trilemma setzt sich zusammen aus drei einander widerstreitenden politischen Zielen, nämlich erstens dem Wunsch weiter Teile der Bevölkerungen und überforderter Institutionen der Zielländer, die Zuwanderung zu begrenzen, zweitens der fortlaufend bestehenden dringenden Nachfrage der Wirtschaft nach billigen Arbeitskräften und drittens dem Gebot, humanitären Vereinbarungen und Rechten wie den Menschenrechten gerecht zu werden und diese zu schützen. Vor allem die ersten beiden Ziele verursachen einen markanten Widerspruch, den das dritte Ziel zusätzlich verkompliziert. De Haas macht deutlich, dass die überwiegende Mehrzahl der internationalen Migranten Arbeitsmigranten sind (oft wurden sie abwertend als „Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet). 2020 waren es z.B. über 90 Prozent Arbeitsmigranten und nur gut 8 Prozent Flüchtlinge (berechnet auf Basis der Grafik auf S. 43). Asylsuchende sind im Gesamtkontext der Migration nur ein sehr kleiner Teil (S. 50).

Migranten z. B. aus Afrika machen sich nicht auf den beschwerlichen Weg nach Europa, weil sie verzweifelt sind (Mythos 6) oder auf Kosten westlicher Sozialsysteme leben wollen (Mythos 9), sondern weil sie arbeiten und von einem besseren Verdienst profitieren möchten. Und Migranten sind in der Regel informiert und kommen gezielt, weil es diese Arbeitsplätze gibt und sie Arbeit finden, ja gebraucht werden, und nicht – wie häufig argumentiert – überflüssig sind (Mythos 7) oder einheimischen Arbeitskräften sogar die Arbeit wegnehmen (Mythos 8). Weil Migranten informiert sind, sinkt die Migration in wirtschaftlichen Krisenzeiten der Zielländer und steigt wieder, wenn Krisen überwunden und mehr Arbeitsplätze verfügbar sind (S. 146-47). Arbeitsmigranten übernehmen Arbeiten in Industrie, Landwirtschaft, Baugewerbe, Fleisch- und Fischverarbeitung sowie in Dienstleistungsbereichen wie Gesundheit, Hotel- und Gaststättengewerbe, Reinigungsgewerbe, Zulieferdienste, Arbeiten in privaten Haushalten etc. Viele dieser Sektoren, so de Haas, „sind immer stärker von Zuwanderung abhängig“ (S. 152-155).

Es ist ein Verdienst von de Haas, die für die Zielländer sehr wichtige Funktion der Migration sichtbar zu machen, die in Migrationsdebatten meist vergessen oder ignoriert wird, denn Migranten verrichten oft anstrengende, unangenehme Arbeiten, für die sich in den Zielländern nicht genügend Arbeitskräfte finden. Nach de Haas stützen Migranten sogar den Sozialstaat, da sie wichtige Funktionen für das Gemeinwesen gewährleisten, z. B. im Gesundheitswesen, aber auch in vielen anderen Sektoren. 2022 waren in Großbritannien 33% aller Ärzte Zuwanderer (vor allem aus Indien und Pakistan) und 24% des Pflegepersonals (vor allem aus Indien und den Philippinen, S, 197f). In vielen europäischen Ländern stützt sich die Pflege massiv auf Migranten. „Da das Angebot an einheimischen Pflegekräften weitgehend versiegt ist, ist Pflege nur dank der Zuwanderung noch bezahlbar“ (S. 198). Die Zielländer profitieren auch ökonomisch von Migranten, denn diese tragen zum Wirtschaftswachstum bei. De Haas verschweigt nicht, dass Migration auch Belastungen verursacht. Doch das heute verbreitete negative Bild von Migration hält den wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht stand.

Dieses negative Bild der Migration hat vielmehr zu einer Politik beigetragen, die nicht die erhoffte Kontrolle bringt, sondern die Probleme massiv verschärft. Zum einen zeigt de Haas, dass die Grenzen (anders als wiederholt verlautbart) nicht wirklich dicht gemacht wurden (Mythos 16), und sich die Zuwanderung zum anderen durch Beschränkungen nicht nachhaltig verringern ließ (Mythos 21). De Haas beschreibt ein umfassendes, langfristiges Forschungsprojekt, in dem er mit seinem Team die öffnenden und restriktiven politischen Maßnahmen zur Einwanderung systematisch für alle Länder seit dem Jahr 1900 untersucht hat. Dieses Projekt hat gezeigt, dass von 1945 bis etwa 1995 vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen (Arbeitskräftebedarf) eine liberale und migrationsoffene Politik betrieben wurde, in der migrationsöffnende Maßnahmen migrationsbeschränkende Maßnahmen deutlich überwogen. Seit 1995 ist die Politik etwas restriktiver geworden, aber migrationsöffnende Maßnahmen waren nach wie vor deutlich zahlreicher als restriktive Maßnahmen zur Begrenzung der Migration (S. 304-307).

Diese widersprüchliche Politik hängt mit dem oben genannten Trilemma zusammen, dem zunehmenden Wunsch nach Abschottung und dem gleichzeitig fortwährend hohen Interesse und Bedarf an meist (aber nicht nur) einfachen Arbeitskräften. Neue Visazwänge und Maßnahmen der Grenzsicherung erschweren die Zuwanderung, aber beenden sie nicht. Migranten kommen weiterhin, können das aber oft nur illegal mit Hilfe der Dienste von Schleppern oder durch Nutzung zeitlich begrenzter Touristenvisa und nach Visaablauf illegalem Aufenthalt tun. Mit den Grenzschließungen ist deshalb die Zahl illegaler Migranten dramatisch gestiegen, um die gleichen Arbeiten zu verrichten, wie legale Migranten (obwohl nach de Haas weiterhin die weitaus größere Zahl von Migranten legal in die Zielländer gelangen). Bezeichnenderweise verfolgen Migrationsbehörden in den Zielländern illegale Arbeitskräfte und ihre Arbeitsgeber (zumindest bis zu Präsident Trump 2025 in den USA) nahezu überhaupt nicht (S. 313-314). Die Illegalität schafft den Arbeitsmigranten große Probleme, denn diese sind deutlich schutzloser, können schamlos ausgebeutet werden und haben keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen.

Grenzschließungen für Migranten haben weitere fatale (in Migrationsdebatten meist ausgeblendete) Folgen. Sie unterbinden erstens die Rückkehr von Migranten. Die Abwanderung geht deutlich stärker zurück als die Zuwanderung, weil Migranten die Sorge haben, nach Verlassen des Ziellandes nicht mehr einreisen zu können, was eine Nettozunahme an Migranten ergibt (S. 401). Zweitens verhindern Grenzschließungen die zuvor sehr bedeutende sogenannte „zirkuläre Migration“, nämlich die vorübergehende Einreise z. B. für saisonale Jobs, während Hauptwohnsitz und Familie in den Heimatländern bleiben, wo das Leben ohnehin billiger ist (S. 403). Drittens steigen unter diesen Voraussetzungen die Zahlen für den Familiennachzug, ein Grund z. B. für den dramatischen Anstieg der mexikanischen Population in den USA auf 11 Millionen Männer, Frauen und Kinder (S. 404). Besonders deutlich hat dieses Dilemma auch der Brexit gemacht, da zirkuläre Migranten aus Osteuropa mit dem Verlust der Freizügigkeit in der EU sich notgedrungen entschlossen haben, ihre Familien nachzuholen und dauerhaft in Großbritannien zu bleiben – ein nicht unerheblicher Grund für die mit dem Brexit gestiegene Nettozuwanderung (S. 393). Im Vergleich dazu hat die Öffnung der Grenzen in der EU für die neuen Mitgliedsländer aus Osteuropa 2004 und 2007 die Binnenmigration innerhalb der EU nicht dramatisch erhöht (S. 406-407). Schließlich fördern, viertens, verschlossene Grenzen den Missbrauch humanitärer Asylrechte, da illegale Migranten auf diesem Wege auf Legalisierung oder zumindest auf Duldung in den Gastländern hoffen.

De Haas betont abschließend, dass es „keinen Grund zur Panik“ gibt und die Zuwanderung „nicht außer Kontrolle“ geraten ist. Er plädiert vor allem dafür, sich ehrlich zu machen und das Migrationstrilemma in Politik und Gesellschaft und den über die Migration geführten Debatten anzuerkennen. Zuwanderung ist ein Faktum und wird es bleiben. Bedingungslos offene Grenzen hält de Haas aber für unrealistisch. Er plädiert für Konfliktvermeidung und eine pragmatische Migrationspolitik. „Zuwanderung wird immer Regeln benötigen“ (S. 435). Eine wirkungsvolle Zuwanderungspolitik muss die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten anerkennen, also die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes ebenso wie gesellschaftliche Befindlichkeiten. Kritisch gibt er zu bedenken, dass „die Reichen den größten wirtschaftlichen Nutzen von der Migration haben“, während wirtschaftlich benachteiligte gesellschaftliche Gruppen wenig daran partizipieren (S. 445). Wenngleich keine Lösung, bietet dieses Buch zahllose wichtige Erkenntnisse und sei allen interessierten Lesern empfohlen. Meiner Meinung nach hätte de Haas allerdings auch ohne allzu großen Verlust viele der von ihm beschriebenen „Mythen“ (Kapitel) weglassen können.

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