Besprechung für Ohne Sprungtuch
Wir wissen, wie zentral es für die Persönlichkeitsentwicklung ist, als Kind Liebe und Geborgenheit zu erfahren. In seinem eindrücklichen Lebensbericht zeigt uns Peter Gross, was es heissen kann, wenn diese Grundvoraussetzung beim Start ins Leben fehlt.
Zuwendung erfuhr der kleine Peter nur bei seinen Grosseltern, die jungen, überforderten Eltern schenkten ihm kaum je liebevolle Aufmerksamkeit – eher erinnert sich Peter daran, dass er alleingelassen oder blossgestellt wurde. Der Vater machte sich bald aus dem Staub, interessierte sich gar nicht mehr für seine Kinder und unterstützte die Familie auch nicht finanziell in der prekären Situation. Die Beziehungen Peters zu den neuen Partnern der Mutter waren sehr angespannt, und in Konfliktsituationen schlug sich die Mutter stets auf die Seite der Partner und wandte sich gegen ihren Sohn.
«Ohne Sprungtuch» heisst: ohne ein Urvertrauen, auf das man in schwierigen Situationen zurückgreifen kann, ohne familiäres Netzwerk, das einem auffängt, wenn es nicht läuft, aber auch ohne finanzielle Reserven, die man zur Not anzapfen kann.
Wie traumatisch die Kindheit für Peter gewesen sein muss, wird deutlich, wenn er erzählt, dass er jahrzehntelange nicht in der Lage war, «Ich» zu sagen. Er redete von sich selbst stets in der dritten Person. Ohne Sprungtuch heisst in der Zuspitzung auch: Ohne «ich», das für die eigene Person einsteht, sich in Konfliktsituationen angemessen zur Wehr setzen kann.
In seinem Berufsleben wiederholen sich immer wieder Szenarien, in denen Peter Gross von Arbeitskollegen provoziert oder gemobbt wird. Und auch die Beziehungen zu Frauen sind lange konfliktanfällig. Zwar rappelt er sich nach Rückschlägen immer wieder mit bewundernswerter Energie auf, und geniesst durchaus auch Phasen mit stabilen Beziehungen und guten Jobs. Aber irgendwann gerät er in den Strudel von Arbeitslosigkeit und Krankheit und muss sich mit der Regionalen Arbeitsvermittlung (RAV) und IV-Abklärung herumschlagen. Statt nun endlich Hilfe und Unterstützung zu erhalten, erlebt er die Willkür der Ämter und Experten, die selbstherrlich über Schicksale von Menschen entscheiden. Der Autor erzählt in direkter, klarer Sprache, und macht kein Hehl aus seiner verständlichen Frustration.
Noch einmal macht er die Erfahrung: kein Sprungtuch, er fällt in der vorgeblich so sozial aufgestellten Schweiz durch die Maschen.
Wenn die Geschichte hier enden würde, hätte der Autor wohl kaum die Energie gehabt, sie niederzuschreiben und zu publizieren. Sie nahm aber eine Wende zum Guten.
Er lernte eine Partnerin kennen, die in allen Krisen zu ihm hielt. Er traf Leute, die ihm Verständnis entgegenbrachten und ihn unterstützten. Und nach zahllosen vergeblichen Bewerbungen fand er eine passende Arbeitsstelle im ersten Arbeitsmarkt.
Entscheidend aber war, dass sich Peter den Dämonen seiner Kindheit stellte. Das brauchte viel Mut und Überwindung. Mit einfühlsamer psychologischer Betreuung gelang es ihm, sich seinen Kindheitstraumata zu stellen und seine eigenen Verhaltensmuster zu durchschauen. Er lernte endlich «Ich» zu sagen.
«Ohne Sprungtuch» ist ein lesenswerter, zum Nachdenken anregender Lebensbericht.