Besprechung für Mars
Mitte der 1960er Jahre, das Bürgertum in Zürich (und anderswo in der Schweiz): Behäbig, konservativ, selbstüberzeugt. Geld hat man, darüber spricht man nicht. Auch über vieles andere nicht. 1959 hatte der Kanton Zürich – im Einklang mit der Restschweiz – den Frauen das Stimmrecht verweigert, mit einer knappen Zwei-Drittel-Mehrheit. Man ist strikt antikommunistisch. Man legt viel Wert auf förmlichen Umgang und Manieren und weiss genau, was sich gehört – und was nicht.
Dies ist, grob skizziert und ‒ von heute aus gesehen ‒ natürlich auch klischeehaft, der gesellschaftliche Hintergrund, vor dem der Autor sein Studium in Zürich begann, nach einer Kindheit in einem reichen Elternhaus an Zürichs Goldküste.
Die Eltern legen sehr grossen Wert auf Anstand und Harmonie. Sie meiden Kontroversen konsequent, in alltäglichen Fragen wie einer Terminfindung, aber erst recht in existenziellen Fragen: Sexualität, Religion, Tod, Lebenssinn oder Geld sind absolute Tabuthemen. Die Eltern blicken überheblich auf Leute, die solche Themen zur Sprache bringen: Diese Menschen haben nicht begriffen, dass dies «schwierige» Themen sind, über die man einfach besser schweigt. Man kann sich die Arroganz und die Abschottung leisten, vermutlich speist sich das Überlegenheitsgefühl auch aus dem materiellen Vermögen.
Die Pointe dieser Erzählung ist gerade, dass hier nicht eine bürgerliche Doppelmoral angeklagt wird. Hinter der gediegenen Fassade dieser Familie gibt es kein geheimes, pulsierendes Leben. Man geht völlig auf in Anstand und Förmlichkeit und lebt asexuell, und auch asozial. Es gibt keine Freunde, mit denen man einen engen Austausch pflegt, weil Austausch bedeuten würde, dass man auch «schwierige» Themen berührt. Alles Lebendige wird unterdrückt, erstickt. Ruhe ist oberstes Gebot.
Das ist eine sehr deprimierende Beschreibung einer Familie. Noch deprimierender ist es, dass sich der Sohn zunächst vollkommen mit dem elterlichen Weltbild identifiziert. Er realisiert zwar nach und nach, welche Defizite er sich damit einhandelt, insbesondere im Bereich von Partnerschaft und Sexualität: Längst haben Alterskollegen eine Freundin, dann eine Ehefrau, er ist aber ganz grundsätzlich nicht fähig zu einer Liebesbeziehung, sowohl körperlich wie auch seelisch. Aber er verdrängt dieses für sein psychisches Gleichgewicht immer bedrohlicher werdende Defizit mit dem Fokus auf die Bereiche, in denen er Erfolge auszuweisen hat: die Matura locker geschafft, dann auch erfolgreicher Student der Romanistik an der Uni Zürich.
Das eindringliche Portrait des jungen Mannes als zunehmend in der Luft hängender Student ist ein Höhepunkt des Buches: Tageweise lungert er herum im romanischen Seminar, immer auf der Suche nach einem Kommilitonen, der mit ihm Kaffee trinkt. Er ist scheinbar immer guter Laune und für einen Spruch zu haben. Das hilft ihm, den Kaffeeplausch an der Oberfläche zu halten, er muss nie ernsthaft zu irgendetwas Stellung beziehen. Er hat Kollegen, aber keine Freunde. Dennoch schafft er sich an der Uni einen Schutz-Raum, wo er als etwas merkwürdiger Aussenseiter akzeptiert ist und wo er den Lebensfragen weiterhin aus dem Weg gehen kann.
Erst allmählich und mit der Krebserkrankung dann endgültig bricht das Konstrukt der Souveränität zusammen. Für den Autor ist der Krebs das Resultat seiner lebensfeindlichen Erziehung und er erkennt, dass er seit langem unter eine Depression und an einer schweren Neurose leidet.
Das Buch wird zu einer einzigen Abrechnung mit der bürgerlichen Gesellschaft, als deren typisches Produkt er sich sieht. Seine Eltern sind «schuldig» an seiner Misere und an seinem Krebstod, sollte er denn eintreten. Sigmund Freud und vor allem Wilhelm Reich sind wichtige Kronzeugen – die Unterdrückung der Sexualität ist der Kern des bürgerlich Bösen, dem die Kinder zum Opfer fallen.
«Mars» wurde in den 1970er und 1980er Jahren zu einem Kultbuch. Dazu beigetragen hat sicherlich der Tod von Fritz Angst (Fritz Zorn ist ein ‒ passendes ‒ Pseudonym) noch vor der Publikation im Jahre 1977, aber entscheidend war wohl, dass er mit seiner Generalanklage gegen das verknöcherte Bürgertum den Zeitgeist traf. Der Autor nimmt mit seinem Furor die Jugendunruhen von 1980 vorweg. Ein Slogan der «Bewegung» könnte direkt von ihm stammen: Macht kaputt, was euch kaputt macht. Er ist ein Intellektueller, aber er ist kein 1968er, kein Theoretiker, der die Vision eines alternativen politischen Systems hat. Eher setzt er in höchster Not zu einem Rundumschlag an, er erklärt sich «im totalen Krieg». Da gibt es dann auch wenig Raum für Differenzierungen, die Argumentation wird zunehmend polemisch und verstiegen. Der Krebs wird umstandslos als psychische Krankheit gedeutet und argumentativ instrumentalisiert. Der Autor ergeht sich in Gewalt-Phantasien, gegen seine Mutter oder gegen die Schweizerische Kredit-Anstalt (später: Crédit Suisse), wo natürlich die Millionen des verstorbenen Vaters liegen. Das Zürcher Bürgertum oder am Ende der christliche Gott verkörpern das Böse, das es zu zerstören gilt. Ganz von der Hand weisen kann man den Gedanken nicht, dass der Autor auch in der radikalen Revolte sich nach einem stimmigen, konsistenten Bild der Welt sehnt mit klarer Rollenteilung von Gut und Böse, quasi ein Äquivalent und Ersatz zur Harmonie des Elternhauses.
Diese ins Allgemeine zielenden, sich wiederholenden Tiraden gegen das Bürgertum ermüden zunehmend. Aber auch 50 Jahre nach der Entstehung beeindruckt die Energie, mit der sich Fritz Zorn, heimgesucht von einer Krebserkrankung und einer schweren Neurose, einen Weg in ein lebenswertes Leben sucht. Die Beschreibung des missglückten Lebens, der schonungslose Rückblick auf Kindheit und Jugend im sterilen Elternhaus sind ergreifend – ein verzweifelter Appell, das Leben zu bejahen und aktiv zu gestalten.
Ja, es ist bemerkenswert, welchen Kultstatus das Buch von Fritz Zorn offenbar erlangt hat. Mich überrascht, wie sehr die Beschreibungen aus seinem bürgerlichen Elternhaus für bare Münze genommen wurden und wie sehr von den vielen Widersprüchen und Unstimmigkeiten im übermässig ich-bezogenen Bericht abstrahiert wurde – erst der junge Mensch, der den Turnunterricht hasst und für den der Tanzkurs die Hölle ist, dann der Turner und Tänzer im Studium; erst der schüchterne Junge, der kaum andere Menschen ansprechen kann, ohne rot zu werden, dann der Student, der in seiner elterlichen Villa Partys schmeisst und seine „gastgeberischen Fähigkeiten vervollkommnet“. Bei genauer Betrachtung passt in dem Bericht vieles nicht zusammen. Aber das ist vielleicht auch so ein Phänomen: Wenn man in einem Punkt den Nerv der Zeit trifft, dann ist es zweitrangig, wie stimmig die Dinge sind.
Das Tragische liegt für mich weniger in den Umständen der bürgerlichen Mitwelt, von denen er berichtet, sondern in der eigenen Unfähigkeit, sich aus dem vermeintlichen Käfig, in dem er sich zeit seines Lebens wähnt, zu befreien. Stattdessen flüchtet er sich in Zynismus und hasserfüllten Tiraden und zelebriert seine Neurosen und seine Krankheit. Letztlich vermag ich im Bericht nicht eine Abrechnung mit der bürgerlichen Welt und auch nicht einen Appell zu erkennen, weil der Autor praktisch ausschliesslich um sich selbst kreist und damit vor allem den Blick in die Abgründe seiner eigenen Seele freigibt.
Dass «Mars» zu einem Kultbuch wurde, ist dem Zeitgeist um 1980 herum zu verdanken und aus heutiger Perspektive nur schwer nachzuvollziehen. Das Buch weist in der Tat einige Unstimmigkeiten auf, über die man im Sog der Tiraden leicht hinweg liest. So waren es beispielsweise die angeblich jeden Konflikt tabuisierenden Eltern, die Fritz endlich zum Psychotherapeuten geschickt haben.
Der Bericht hat wenig Konstruktives zu bieten. Der Autor meint zwar, endlich gesellschaftliche und psychische Mechanismen zu durchschauen, die ihn in die Misere geführt haben. Aber er verharrt in der Denunziation, der Verweigerung und spricht seine Umwelt schuldig. Keine Spuren von mühsamen Schritten hin zu einem befriedigenden Austausch, von Zweifeln oder auch kleinen Erfolgen auf dem Integrations-Weg. Er ist schwer krank und scheint dazu nicht in der Lage zu sein, oder nicht willens. Er befindet sich ja im «totalen Krieg», so wie er sich zuvor in seinem Elternhaus im «totalen Frieden» der Zwangsharmonie befand. Für ihn ist es ganz offensichtlich zu spät, ins Leben zurückzukehren. Aber für andere kann das Buch doch als Appell verstanden werden, das Leben aktiv zu gestalten, und lebenshemmende Konventionen zu durchbrechen, wenngleich Fritz Zorn nicht als Vorbild dafür taugt.