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Besprechung für Erinnerung, sprich

Moritz T. Keine Kommentare Kommentar hinzufügen
Besprechung:

Vladimir Nabokovs «Erinnerung, sprich» zeugt vom markanten Einschnitt eines welthistorischen Ereignisses in eine Biographie: Der 18-jährige Jugendliche musste nach der russischen Oktober-Revolution 1917 mit seiner Familie emigrieren und das überaus privilegierte Leben eines Mitglieds der russischen Adels-Elite hinter sich lassen.
1899 wurde Vladimir in eine Familie in St. Petersburg hineingeboren, in die Vater und Mutter aus ihren jeweiligen Familien beträchtliche Vermögen eingebracht hatten. Wie wohlhabend die Nabokovs gewesen sein müssen, erschliesst sich aus der Anzahl Dienstboten, die dem Haushalt in der Hauptstadt und im südlich davon gelegenen Landgut Wyra zu Diensten standen: Es waren nicht weniger als fünfzig. Der Vater war Jurist und politisch sehr aktiv, als Liberaler in Opposition zum autokratischen Zarenregime; er engagierte sich in den Revolutionen 1905 und 1917. Vladimir wuchs sehr behütet auf, und genoss das vielseitige Beschäftigungsprogramm eines Adelssprösslings: Mehrsprachiger Privatunterricht, Tennis, Reiten, Schach, das vom Vater übernommene exquisite Hobby des Schmetterlingssammelns, das von der fürsorglichen Mutter geförderte Interesse an Literatur, oder Ferienreisen nach Biarritz oder Bad Kissingen. Ein Urvertrauen in die Existenz scheint Vladimir von seiner liebevollen, leicht weltfremden Mutter geerbt zu haben, die eine Neigung zur Esoterik hatte und begeistert auf das synästhetische Empfinden oder andere «milde Halluzinationen» des Knaben reagierte. Da wurde früh eine Basis für die eigenwillige Poetologie Nabokovs gelegt, der diese Kindheitswelt in leuchtenden Sätzen beschreibt, die sie für ihn und für uns lebendig halten, getreu seiner Philosophie der Zeit, die, verkürzt gesagt, gar nicht vergeht.
Zu den Glanzstücken der Autobiographie zählen die Porträts von Gouvernanten und Privatlehrern, die sich um Vladimir und seine Geschwister kümmerten, und ihre Marotten. Mit leichter Ironie werden die Erfahrungen der aus der Schweiz angereisten «Mademoiselle» in der russischen Fremde geschildert, mit dem herrlichen Bild bei der Ankunft: Die ängstliche Schweizerin hielt die funkelnden Lichter der Dörfer in der Ferne für «die gelben Augen von Wölfen».
Auffällig wenige Worte verliert Vladimir über seine Geschwister. Der Erstgeborene erscheint als Liebling der Eltern und steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Geschwister sind eher Staffage. Das Verhältnis zum nur ein Jahr jüngeren, schüchternen und stotternden Sergej ist kein enges, er kann sich auch später mit dem homosexuellen Bruder kaum anfreunden, der 1945 in einem deutschen Konzentrationslager starb. Das Buch ist – wie fast alle seine Bücher – Nabokovs Frau Vera gewidmet, aber auch sie und der gemeinsame Sohn Dimitri spielen nur eine kleine Nebenrolle in diesem Text.
Viel Raum nehmen die Abschnitte ein, die Vladimirs frühes Interesse für Mädchen schildern, vom Ferienflirt Colette über die Kutscherstochter Polenka bis zum sorgfältigen Portrait der Jugendliebe «Tamara», die eigentlich Walentina hiess. Die Liebe zu sehr jungen Frauen bleibt dann bekanntlich ein grosses Thema von Nabokovs Romanen.
Man gewinnt den Eindruck, als ob die Erinnerungsschätze der Kindheit und Jugend Nabokov gegen das Trauma des Exils immunisieren, von dem er in den letzten Kapiteln in eher beiläufigem, sachlich-ironischem Ton erzählt, von den Demütigungen des Fremden und vom schwierigen Start der Schriftsteller-Karriere in Westeuropa. Er bewahrt sich die etwas hochmütige Distanz des russischen Adligen, selbst als er alle damit verbundenen Privilegien eingebüsst hat.
Die Kapitel sind zu verschiedenen Zeitpunkten (um-)geschrieben worden. Das ist kein Text aus einem Guss, man zögert auch etwas, das Buch in erster Linie als Lebensbericht zu verstehen. Vielmehr sind es einzelne Erinnerungs-Kunststücke, in denen Nabokov mit seiner Virtuosität der Anspielungen und Doppelbödigkeiten brilliert; gelegentlich mag eine Szene allzu elaboriert wirken, als präpariere der Autor sorgfältig einen aufgespiessten Schmetterlingsfang. Aber «Erinnerung, sprich» ist ein reiches Buch, das dem Leser bei wiederholter Lektüre immer neue Aspekte enthüllt. Hier wird es uns von Dieter E. Zimmer in einer sorgfältig annotierten und prächtig ausgestatteten Ausgabe präsentiert.

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