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Besprechung für Die Brücke über die Drina

Moritz T. Keine Kommentare Kommentar hinzufügen
Besprechung:

Das osmanische Reich hatte im 15. Jahrhundert die Tradition der «Knabenlese» etabliert, eine grausame Steuer: vor allem im Balkan mussten christlich-orthodoxe Familien periodisch Knaben an die Herrscher abtreten, die dann zur Konversion gezwungen und zum Teil in den Sultanspalästen zu Beamten des Reichs herangezogen wurden. Wenn die Eltern Widerstand leisteten oder die Knaben versteckten, konnten sie auf der Stelle hingerichtet werden.
Ivo Andrić erzählt die herzergreifende Geschichte einer solchen «Knabenlese» in der Stadt Višegrad: die wehklagenden Mütter folgten dem Zug der Soldaten und ihrer Söhne bis zum Fluss Drina, wo dann ein düsterer Fährmann die Knaben übersetzte und sie für immer aus dem Blickfeld der Familien entfernte.
Einer dieser Knaben, später umbenannt in Mehmed Pasa, brachte es bis zum Grosswesir im Osmanischen Reich. Er liess in seinem Heimatort von 1571 bis 1578 eine grosse Brücke über die Drina bauen. Diese Brücke, die über die Jahrhunderte mehrfach teilweise zerstört und wieder aufgebaut und 2007 zum UNESCO-Weltkulturerbe deklariert wurde, steht im Zentrum des Romans.
Eindrücklich wird vom aufwendigen Bau der Brücke erzählt, unter dem brutalen Regime von Abidaga. Er ruft den passiven und schliesslich auch aktiven Widerstand von serbischen Bauern hervor, die die Arbeiten sabotieren. Einer der Täter wird erwischt und öffentlich gepfählt. Die Bevölkerung muss die lange Agonie dieser Hinrichtung miterleiden.
Von Anfang an steht die Brücke also im Zeichen der Gewalt. Aber sie wird auch zu einem Symbol der Verbindung und des Gemeinsinns. Als das 180 Meter lange Bauwerk endlich fertiggestellt wird, nimmt sie die Bevölkerung sofort in Besitz. Die Brücke vermittelt ein Gefühl der Erhabenheit und der Transzendenz, das der Autor auf herausragende Weise plausibel macht.
Auf dem Mittelpfeiler der Brücke gibt es eine grosse Plattform, die Kapija. Hier trifft man sich zum Austausch, zum Tratsch, zum Kaffeetrinken. In Višegrad lebten Muslime, serbische Christen und Juden zusammen. Die Brücke verbindet diese Gemeinschaften, sie verbindet auch Europa mit dem Orient, Sarajevo mit Istanbul, wobei Višegrad über die Jahrhunderte eher ein orientalisches Gepräge angenommen hatte. Andrić beschreibt das Leben dort «als zu zwei Dritteln noch vollkommen orientalisch», als Bosnien nach 1878 unter die Herrschaft Österreich-Ungarns kam.
Andrić überbrückt die Jahrhunderte mit vielen Geschichten und Legenden, von einer unglücklichen muslimischen Braut, die sich von der Brücke in den Tod stürzte, oder von einem spielsüchtigen Juden, der auf der Brücke einen Gold-Dukaten fand, der ihn ins Verderben führte. Eine Überschwemmung schweisst die Stadtgemeinschaft über die Glaubensgrenzen zusammen. Aber serbische Aufstände gegen die Osmanen und später die Österreicher schlagen sich auch in der Stadt und auf der Brücke in Gewalttaten nieder – Aufständische wurden zur Abschreckung öffentlich hingerichtet.
Die Erzählung gewinnt wieder an Dichte, wenn die Phase vor dem 1. Weltkrieg in den Blick kommt. Der Autor portraitiert eine Studentengruppe, die teilweise vom serbischen Nationalgefühl ergriffen wird und sich gern auf der Brücke zum politischen Gespräch trifft – und zum Flirten. Endlich war es auch für Frauen ziemlich, sich auf der Brücke aufzuhalten, über Jahrhunderte war das den Männern vorbehalten gewesen. Der teilweise in Višegrad aufgewachsene, einer kroatisch-katholischen Familie entstammende Andrić zählte in seiner Jugend selbst zu einer Vereinigung «Junges Bosnien», aus der der serbische Attentäter hervorging, der in Sarajewo den Erzherzog Franz Herzog ermordete und damit die «Juli-Krise» auslöste, die dann im Kriegsausbruch mündete. Es ist bemerkenswert, wie differenziert Andrić die Gefühlslage der Studenten darstellt. Es gibt auch nostalgische Stimmen im Roman, die sich nach «der unwiederbringlichen ‘süssen Stille’ der türkischen Zeit» sehnen, in Verklärung des durchaus nicht immer friedlichen Zusammenlebens der ethnischen Gruppen und eines stabilen Rahmens, der durch den europäisch-kapitalistischen oder nationalistischen Aufbruch gefährdet wird.
Andrić war in späteren Jahren als Diplomat und Repräsentant Jugoslawiens tätig, das in der Spätzeit ab den 1970er Jahren den Muslimen gewisse Freiheiten und Autonomierechte einräumte; in beschränktem Rahmen zeichnete sich ein gleichberechtigtes Zusammenleben der Ethnien ab. Unterschwellig müssen die Spannungen aber immer sehr gross gewesen sein, wie sich dann im Zerfall Jugoslawiens und den Bosnienkriegen in den 1990er Jahren zeigte. Auch damals – wir haben den Roman-Zeitrahmen längst hinter uns gelassen – wurden Višegrad und die Brücke über der Drina zum Schauplatz von gewalttätigen Auseinandersetzungen, von Massenmord und Vertreibung durch serbische Paramilitärs. Heute leben nur noch wenige muslimische Bosniaken in der Stadt.
Der brillant geschriebene Roman fesselt durch detailliert gezeichnete Portraits vieler einzelner Figuren, durch Liebes- und Familiengeschichten in den verschiedenen Milieus und ethnischen Gruppierungen. Die religiösen Führer werden immer wieder im Austausch gezeigt. Dieses Panorama einer vielfältigen Gesellschaft wirkt als starkes Plädoyer für das Zusammenleben und den Dialog, auch wenn Andrić die tiefliegenden Konflikte und das Erbe der Gewalt keineswegs ausblendet. Man gewinnt den Eindruck, dass der Autor den Roman selbst als Brücke angelegt hat, als Brücke der Verständigung, die gerade heute in der spannungsgeladenen, segregierten Situation in der Region bitter notwendig wäre.

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