Besprechung für Seiobo auf Erden
Die Figuren in diesen Erzählungen sind oft einsam und heimgesucht von Obsessionen, die manchmal an den Wahnsinn grenzen. So in «Auf der Akropolis», als ein Osteuropäer in einer nicht näher hergeleiteten Lebenskrise nach Athen fliegt und bei grösster Mittagshitze unbedingt die Akropolis besichtigen muss. Oder wir erleben in «Private Leidenschaft» den Vortrag eines Architekten mit einer unbändigen Liebe für Barock und Bach (und mit einem Hass auf alles spätere, sei das Mozart, Beethoven, oder, horribile dictu, Wagner), der ob seiner Musikleidenschaft die Gesellschaftsfähigkeit einbüsst und sein spärliches Publikum vor allem verschreckt. Auch wenn der Autor komische Effekte nicht verschmäht, durchzieht die Geschichten im Allgemeinen eine tiefe Melancholie, zuweilen Todessehnsucht.
Den Auftakt macht eine Studie eines weissen Reihers, der still und steif im Fluss Kamo in Kyoto steht. Die langen Sätze evozieren das turbulente Gewässer, das den einsamen Jäger, die einzige Vertikale im Flussbild, umwirbelt. Es ist eine Meditation über das Lebensprinzip des Fressens und des Tötens, dem der Reiher, wie viele Lebewesen, ausgeliefert ist.
In fast allen Geschichten kommt eine Faszination für die bildende Kunst, meist in Verbindung mit Religion, zum Ausdruck. Im Vordergrund stehen dabei die Materialität der Kunst, die verwendeten Stoffe, oder handwerkliche Fertigkeiten. Wir erfahren, mit welcher Sorgfalt der Renaissance-Maler Perugino, der Lehrer von Raffael, die Farben zubereitete. Oder wie nach einem 1300 Jahre alten Ritual die Hinokizypressen gefällt und verarbeitet werden, die zur Erneuerung des Shinto-Schreins in Ise verwendet werden, die alle 20 Jahre in feierlicher Zeremonie von statten geht. Die Erzählungen nehmen dann zuweilen die Form von Essays an. Krasznahorkai hat einen eigenwilligen Stil entwickelt, auch wenn eine gewisse Verwandtschaft mit Thomas Bernhard oder W.G. Sebald nicht zu verkennen ist.
Während sonst die europäischen und die japanischen Welten in den Geschichten getrennt erscheinen, führt «Der «Neubau des Ise-Schreins» einen europäischen und japanischen Freund zusammen und exemplarisch vor Augen, wie schwierig die interkulturelle Kommunikation ist.
Gerade auch in den zeitlich oder geographisch in entfernten Zonen spielenden Geschichten fällt auf, wie sorgfältig der Autor recherchiert hat, wie atmosphärisch dicht und glaubwürdig er die Szenen aufzubereiten versteht. Die Detailversessenheit dieser Prosa, die ausgefeilten endlosen Sätze reflektieren die Faszination der Figuren für das Handwerk der Künste. Ein absoluter Höhepunkt der Sammlung ist die «Konservierung eines Buddhas»: Eine Statue wird unter sehr grossem Aufwand auf die Reise in eine spezialisierte Werkstatt geschickt und dann einer systematischen Restauration unterzogen. Makellose, grossartige Erzählung.
«Seiobo auf Erden» sind mehr als 450 Seiten hochkonzentrierte Prosa, mit anspruchsvollen Exkursen etwa in die russische Ikonenmalerei oder in das alttestamentarische Buch Esther. Es mag den Lesenden zuweilen so ergehen wie dem Besucher der Alhambra in der Erzählung «Ferne Vollmacht», einer Feier der arabischen Hoch-Kultur, die sich im Grenada des 13. Und 14. Jahrhunderts im Prachtbau manifestiert: Er unterliegt einer ästhetischen Überwältigung. Es empfiehlt sich, die Erzählungen jede für sich zu lesen und sich Zeit zu lassen. Dann aber bietet László Krasznahorkai mit diesem Band ein lange nachklingendes Lektüre-Erlebnis.