Der Mensch als von Natur aus kooperatives und politisches Lebewesen

Implikationen eines Dialogs zwischen Aristoteles und Michael Tomasello für eine interdisziplinäre Erforschung menschlicher Kognition.

Autor: Benjamin Reimann

D I S S E R T A T I O N

Zitierfähige Url:https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa2-720593

SEITE: 107 Moritz T. 3 Kommentare
Stelle:

„Moderne Menschen und ihre evolutionär nächsten Verwandten – die Großaffen – teilen
99% ihres genetischen Materials, dennoch sind sie nicht untereinander
fortpflanzungsfähig und unterscheiden sich in ihren kognitiven Fähigkeiten enorm
voneinander. Hinzu kommt, dass zwischen ihrem Aufkommen in der Evolutionsgeschichte
nur eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne liegt – archäologische Belege für menschliche
kognitive Errungenschaften sind zudem auf lediglich 250’000 Jahre zuvor datierbar, was
die Zeitspanne für eventuelle genetische Mutationen noch mehr verkürzt. Worin also
gründen die vielfältigen und komplexen Formen menschlicher Kognition, wenn für
genetische Anpassungen zu wenig Zeit und zu wenig prozentualer Raum zur Verfügung
steht?“

Anmerkung:

Unter dem Eindruck von „Tagebuch der Menschheit“: wie kann es sein, dass die Menschen vor ca 10’000 Jahre  sesshaft wurden und sich dem Ackerbau zuwandten, und die kulturelle Entwicklung dann sprunghaft vorantrieben, ohne dass die Evolution Zeit gehabt hätte, mit genetischen Veränderung diese Revolution vorzubereiten / mit Aenderungen im Genom zu reflektieren?

Wäre denkbar, dass die genetischen Voraussetzungen für eine kollektive Intentionalität schon sehr lange da waren, aber erst seit der Jungsteinzeit zur Entfaltung kamen?

Dann wäre vielleicht eben die Ausgangslage nicht so eindeutig, wie Reimann p. 106 annimmt:

„Die Frage nach der Wirkursache der Kooperation ist also eindeutig die Frage nach der
Evolutionsgeschichte des menschlichen Leibes im Hinblick auf seine Veranlagung zur
Kooperation und genau diese versucht Tomasello in seinen Naturgeschichten zu
rekonstruieren.“

Weitergabe von kulturellen Techniken, evtl auch epigenetische transgenerationale Prozesse müsste man dann bei der Wirkursache mit in den Blick nehmen.

 

Vgl auch den Abschnitt p. 118:

„Mit jeder dieser zwei sogenannten Wenden geht eine Revolution der Lebensweise und
somit der kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Individuums einher. Frühmenschen
ließen sich kognitiv und emotional auf ihre KooperationspartnerInnen in ihren kleinen
Gruppen ein und waren auf diese Gruppen für ihr Überleben angewiesen. In dieser kleinen
sozialen Gruppe entwickelten sich ihre kognitiven Fähigkeiten und fanden beispielsweise
mit der Zeigegeste311 neue Formen der Kommunikation, die in Prozessen sozialen Lernens
von Artgenossen übernommen wurden. Ihre formale Weise zu kooperieren wandelte sich
also auch mit ihrer neuen Lebensweise. In der zweiten Wende wandelte sich diese
Lebensweise noch einmal. Aus der kleinen Kooperationseinheit entstanden mit der
Kollektivierung von Intentionen immer größere Gruppen, Familien, Stämme bis hin zu
heutigen Nationen und internationalen Gemeinschaften.“

 

 

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bheym

Ich finde die Argumentation von BR (und wohl auch T) in diesem Punkt ebenfalls etwas wacklig, mir fehlt, wie an anderer Stelle angemerkt, dass Deduktiv-Zwingende.

Eventuell könnte BR aber auf den Einwand mit der plötzlichen Sesshaftwerdung und der dann einsetzenden rasanten Kulturentwicklung entgegnen, dass es bereits zu Jäger- und Sammlerzeiten eine menschliche Kultur gab, Menschen waren in kooperativen Gemeinschaften unterwegs, in der es zumindest eine Gruppenkultur gab. Die materialen Voraussetzungen für Kultur mussten somit bereits weit vor der Sesshaftwerdung vorliegen. Zum zweiten setzt Kultur Kooperation voraus, und von der nimmt man ja an, dass es sie schon lange vor dem Aufkommen einer menschlichen Kultur gab. Daraus schliesst BR nun, dass der zentrale Punkt die Veranlagung des menschlichen Leibes zur Kooperation sei.

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