Besprechung für Entangled Life
Merlin Sheldrake ist ein Biologe, der in diesem Buch seine Faszination für Pilze mit dem interessierten Laien teilt. Er taucht tief in die Welt der Pilze ein, mit allen Sinnen, und nimmt den Leser mit auf die Reise: Zum Zubereiten und Trinken von – mit Hefepilzen gebrautem – Cider, auf die Trüffelsuche, in den Walduntergrund, in Labors, aber auch zu Spekulationen, was es heissen könnte, ein Pilz zu sein. Bei aller Immersion der Person und gelegentlichen esoterischen Anflügen – vielleicht verzeihlich bei einem Untersuchungsobjekt, das beim Menschen dank seines Wirkstoffs Psilocybin im Alltag wenig genutzte Hirnareale und -verbindungen aktivieren kann – hält der Autor aber die Balance und schreibt ein wissenschaftliches Sachbuch, das mit einer Vielzahl von spannenden Fakten und Fragen aufwartet. Das Feld der Mykologie ist ein weites: Es reicht von Hefe, über Flechten, Trüffel und Waldpilze bis hin zum Einsatz von Pilzen zum Abbau von Schadstoffen, oder Pilzen als umweltfreundlichen Rohstoff für Verpackungen und Möbel. Etwas ausgeblendet werden in der enthusiastischen Rundschau Sheldrakes Pilze auf Haut oder im Darm des Menschen, und die vielfältigen Formen von Pilzinfektionen.
Pilze sind Pioniere bei der Besiedlung von Lebensräumen, sie breiteten sich vor Pflanzen und Tieren auf der Landmasse der Erde aus, Pilze zählen aber auch zu den ersten Lebewesen, die eine neu entstandene Vulkaninsel besiedeln. Bestimmt sind schon Vorfahren des Homo sapiens mit Pilzen auf die eine oder andere in Berührung gekommen; ein archäologischer Fund deutet darauf hin, dass Neandertaler bereits vor 50’000 Jahren um die antibiotische Wirkung von bestimmten Pilzen gewusst haben. In vielen menschlichen Kulturen haben Pilze – auch als Rauschmittel – schon früh eine Rolle gespielt; umso erstaunlicher, wie wenig wir bis heute über Pilze wissen.
Pilze sind Meister der Kooperation, sei das in der Flechte, von der man lange nicht verstanden hat, dass sie aus Pilzen und Algen besteht, oder – anderes Beispiel – im Waldboden: 90% aller Pflanzen koexistieren mit Pilzen, die beispielsweise Bäume untergründig mit einander verbinden, und Stoffe hin- und hertransportieren. Dieses Wood Wide Web ist noch weitgehend unerforscht, und im übrigen wissenschaftlich auch nicht unumstritten, aber der Leser wird nach der Lektüre einen Wald anders betreten, auch wenn er intuitiv schon immer gewusst hat, dass er sich nicht in einer blossen Ansammlung von Baumindividuen befindet. Bei Schädlingsbefall, so geht eine These, senden Pflanzen sogenannte Infochemicals aus, via Pilznetzwerk andere Pflanzen erreichend, die sich dann für einen Befall wappnen können. Das Zusammenleben von Pflanzen und Pilzen ist aber nicht immer gedeihlich. Es ist eine eindrückliche Lektion von Sheldrakes Buch, dass sich eine Koexistenz über die Zeit in einem Spektrum von (scheinbar) altruistisch (ein Partner lässt den anderen profitieren, ohne offensichtliche Gegenleistung) über mutualistisch (für beide Seiten von Vorteil) zu parasitär (mit möglicherweise tödlichen Folgen für einen Partner) bewegen kann.
Mykologie hat lange ein Schattendasein geführt, viele Forschungsfragen bleiben unbeantwortet. Das Nischenfach zieht spezielle Typen an; Sheldrakes Buch ist auch eine Serie von Portraits von Wissenschaftlern, die sich mit Leib und Seele den Pilzen widmen, aber auch von Amateuren, die dem Ideal des citizen scientists, des Bürger-Wissenschaftlers, nahekommen. Die Pilzfreaks bilden – Sheldrake kann der Metapher nicht widerstehen – ein sich ausbreitendes Netzwerk, durch das Informationen fliessen, ganz dem Vorbild des Untersuchungsgegenstands entsprechend.