Besprechung für Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen
Mitten im Zweiten Weltkrieg, 1941, publizierte der bereits 1923 aus Deutschland nach Palästina emigrierte Gershom Scholem „Major Trends in Jewish Mysticism“; 1957 erschien die deutsche Ausgabe. Scholem etablierte im Alleingang die jüdische Mystik als akademische Disziplin. Insbesondere die Kabbala hatte unter den jüdischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts einen schlechten Ruf. Scholem zeigt, dass die jüdische Mystik und gerade die Kabbala eine zentrale Rolle spielt für die jüdische Religion, und nicht bloss diejenige einer bizarren Randerscheinung.
Scholem geht chronologisch vor: Am Anfang, in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten, steht die Thronmystik oder Merkaba, in der das Versenken in die göttliche Thronwelt gelehrt wurde. Die deutschen Chassidisten predigten im Mittelalter Askese und einen extremen Altruismus, und praktizierten eine Gebetsmystik, die Gottesnähe durch Buchstaben- und Zahlenkombinatorik suchte. Erst danach beginnt in Spanien des 12. und 13. Jahrhunderts die Zeit der Kabbala – damit korrigiert Scholem seine frühere Position, wonach die Kabbala bereits Jahrhunderte vorher existierte. Scholem konzentriert sich auf Abraham Abulafia, der stark von der Philosophie Maimonides beeinflusst war, aber eine eigenständige Mystik entwickelte, mit Elementen der Gematria (Zahlenwerte von Worten oder Sätzen), Notarikon (Buchstaben eines Wortes als Abkürzung für einen ganzen Satz) und Temura (Vertauschung der Buchstaben gegen andere). Das Loslösen von einer primären Bedeutung im Spiel der Buchstaben und Zahlen sollte das Vordringen in tiefere Regionen der Gotteserkenntnis ermöglichen. Scholem zitiert über Seiten den hinreissenden autobiographischen Bericht eines Schülers Abulafias von 1295, der Einblick gibt in diese Verfahren, die man mit dem Komponieren von Musik vergleichen kann. Es scheint durchaus ein Ziel dieser Praxis, in einem ekstatischen Zustand einen Kontrollverlust zu erfahren: einer der Gründe, warum die Lehren der Kabbala vornehmlich mündlich und unter dem Siegel der Verschwiegenheit weitergegeben wurden. Dieses ekstatische Element bleibt aber (nach Scholem) in der Geschichte der Kabbala eher die Ausnahme.
Im Zentrum des folgenden Kapitels steht der Sohar, eine der wichtigsten kabbalistischen Schriften, die – wie Scholem anführt – zur Hauptsache von Moses de Leon und damit aus dem 13. Jahrhundert stammt (und nicht wie suggeriert aus dem 2. Jahrhundert). Der Sohar ist ein komplexes, schwer zugängliches Werk, stellenweise gemäss Scholem auch „abstrus“, aber es glänzt durch tiefschürfende Interpretationen von Torastellen. Im Sohar werden die «Emanationen» oder Manifestationen Gottes erklärt: das sind die Sefiroth, zehn Namen Gottes, die zurückgehen auf eine Bibelstelle (1. Chronik, 29, 11), zum Beispiel Chochmah (göttliche Weisheit, Klugheit, Geschicklichkeit, Schöpfungsplan) oder Binah (Wille, Einsicht, Verstand; Intelligenz) – s. https://de.wikipedia.org/wiki/Sephiroth .
Zentral für die spanische Kabbala ist „Debekuth“, die die stete Verbundenheit mit Gott und seinen Manifestationen ermöglicht.
Die Sefiroth sind auch für die Kabbala Isaak Lurias im 16. Jahrhundert von grosser Bedeutung. Luria entwickelt im palästinensischen Safed seine esoterischen Lehren, die aber durchaus Wirkung in der ganzen jüdischen Diaspora entfalten. Jeder einzelne Mensch hat durch Befolgen der Gebote, vor allem auch durch das Gebet einen Beitrag zu leisten zur Erlösung. Das Erscheinen des Messias wird den Heilsweg dann nur noch besiegeln, und das (metaphysische) Exil beenden – das Trauma der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 wirkt hier nach. Luria widmet sich ausführlich der Frage, wie es ursprünglich – mit dem „Bruch der Gefässe“ – zu einer Trennung von Gott und Mensch, und wie das Böse in die Welt gekommen ist. Faszinierende, aber auch schwer verständliche Darstellung, in der auch das Nichts (mindestens in Scholems Deutung) eine prominente Rolle spielt.
Im Anschluss folgt eine kurze Abhandlung der Geschichte des mystischen Messias, Sabbatai Zwi (1626- 1676; Scholem hat ihm separat eine tausendseitige Studie gewidmet): glanzvoll, wie Scholem den manisch-depressiven, eher widerwilligen Messias porträtiert, der am Ende zum Islam konvertiert, ohne dass die fanatischen Anhänger deswegen den Glauben an ihn aufgeben. Der Frankismus kann als Radikalisierung gewisser Tendenzen des Sabbatianismus verstanden werden: eine nihilistische Theologie, die im Osteuropa des 18. Jahrhunderts die Sünde als Weg der Erkenntnis propagiert. Das letzte Kapitel ist dem ebenfalls osteuropäischen Chassidismus gewidmet, den Scholem als Erweckungsbewegung charakterisiert, mit grosser sozialer Wirksamkeit. Die Werte des persönlichen Lebens treten in den Mittelpunkt.
In mancherlei Hinsicht gilt Scholems Studie mindestens bei einigen seiner Schüler und Kritiker inzwischen als überholt. Er betont das gnostisch-unorthodoxe Element in der gesamten jüdischen Mystik, genauso wie die antinomistischen Züge, die die jüdische Mystik tendenziell in Widerspruch bringen zum rabbinischen Judentum, aber das jüdische Denken beeinflussen und befruchten. Darüber vernachlässigt er eher konservative Elemente der jüdischen Mystik. Eine Zusammenfassung von Kritikpunkten Moshe Idels findet sich hier: https://www.myjewishlearning.com/article/challenging-the-master/ . Kritisch mit Scholems Sicht auf die vor-kabbalistische Mystik setzt sich Peter Schäfer in «Die Ursprünge der jüdischen Mystik» auseinander.
Scholem legt eine souveräne Abhandlung im Doppelsinne vor: Er präsentiert eine Fülle von Material und Denkfiguren der komplexen, vielfältigen jüdischen Mystik, die er auch dem unbedarften Leser mit grossem didaktischen Geschick nahebringt. Zugleich setzt er, der sich als erster wissenschaftlich diesen Quellen zuwandte, wohl auch Akzente nach einer eigenen Agenda, in Absetzung von seinem assimilatorischen deutschjüdischen Herkunftsmilieu.
In vielen Formulierungen lässt Scholem eine Nähe zu kabbalistischem Denken erkennen, ohne dabei die Position des Wissenschafters zu verlassen. „Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen“ ist auch heute noch lesenswert und streckenweise berührend, weil Scholem Impulse der jüdischen Mystik für das gegenwärtige jüdische Denken identifiziert und die Kabbala nicht nur als historischen Gegenstand behandelt. So etwa, wenn er zum Zeitpunkt des Schreibens (1937) davon berichtet, dass es in Jerusalem 30 bis 40 Meister des äusserst anspruchsvollen lurianischen mystischen Gebetes gibt.
Suhrkamp Taschenbuch-Ausgabe : Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Buch von Gershom Scholem (Suhrkamp Verlag)