„Nahtigal“
Ein Lehrling namens David setzt seinen unausgegorenen Plan eines Banküberfalls soweit in die Tat um, dass er eine Bankfiliale auskundschaftet und die nötigen Gerätschaften (Maske, Pistole, Notizbuch) besorgt. Die Phantasien des jugendlichen Helden finden nahtlos Anschluss an die Erzählrealität. Keine Kursivschrift oder kein Absatz zeigt den Übergang an, wenn sich David Dinge nur noch vorstellt, die sich ereignen könnten. Der Leser wird für kleine Momente weggelockt aus der Erzählrealität, ohne je die Übersicht zu verlieren. Das ist handwerklich gut gemacht und reizvoll zum Lesen. David malt sich beispielsweise harmlos-erotische Szenen mit einer Frau aus, die er auf seinem Streifzug antrifft; vielleicht heisst sie (wie die Erzählung) «Nahtigal» (Achtung: nicht ganz ein Symbol der Liebe!).
Der Erzähler schlägt Kapital aus der Kluft, die sich zwischen Davids Verhalten und seinem Überfallplan auftut. Aber er bezahlt mit einer gewissen Unglaubwürdigkeit der ganzen Geschichte: Dass sich der träumerische und unsichere Lehrling ernsthaft einer Bank in räuberischer Absicht nähert, ist wenig plausibel. Da hilft auch zum Schluss ein etwas unmotiviert eingeführter Rückblick aus dreissig Jahren nicht; immerhin akzentuiert die zeitliche Perspektive die Atmosphäre aus dem letzten Jahrhundert, die stimmig wiedergegeben ist.