Besprechung für Sabbatai Zwi
Sabbatai Zwi war eine exzentrische Figur: er war manisch-depressiv, verstiess immer wieder gegen die Regeln der jüdischen Orthodoxie, war mehrfach verheiratet, scheinbar aber kaum interessiert an Sex. Scholem attestiert ihm keine überragenden Geistesgaben, und auch nur beschränktes Charisma.
In der Darstellung Scholems verdankt sich die Bedeutung von Sabbatai Zwi weitgehend seinem Propheten Nathan, der in ihm zuallererst den Messias erkannte. Die beiden Figuren ergänzten sich hervorragend: Nathan, der intellektuelle, gut geschulte Kabbalist; Sabbatai, heimgesucht von seinen Erleuchtungen (=manische Phasen), für die Nathan die passenden Interpretationen fand.
Scholem trägt geduldig das Quellenmaterial zusammen; Bedeutung der Briefe! Mit welchem Eifer Legenden und Falschmeldungen in die Weltgeschichte versandt wurden. Und welche Wirkung die Korrespondenzen aus dem fernen Orient in Oberitalien oder Amsterdam haben konnten! Zuweilen etwas langfädig, hier hätte man sich manchmal Abkürzung und Einordnung Scholems gewünscht. Aber die Zurückhaltung mit Wertungen und Urteilen hat Methode.
Weit ausgelegtes Begründungsnetz für das Phänomen des mystischen Messias: Vertreibung der Juden aus Spanien 1492; die Marranen mit ihrem Verständnis für Apostaten; der kosmische Exilbegriff der lurianischen Kabbala; die polnischen Pogrome 1648.
Souveräne Skizze des Dilemmas der jüdischen Orthodoxie: wenn jemand die Gesetze von Talmud und Tora aufhebt, dann muss es der Messias sein – oder ein Betrüger. Wie entscheide ich diese Frage? Entscheidende Rolle Nathans, der unter den Rabbinern eine gewisse Autorität genoss. Man stellt sich vor, dass die Authentizität der manischen Anfälle Sabbatais, die eben nicht geschauspielert waren, eine Rolle spielt. Sabbatai nutzte den Schub für Grenzüberschreitungen, die paradoxerweise den Glauben an seine Messiasrolle beförderten.
Vorbereitung auch auf die ultimative Grenzüberschreitung: die Konversion des Messias zum Islam. Herausforderung für den Meister der Interpretationskunst, den Propheten Nathan.
Bestechend auch Scholems Zeichnung eines Problems, mit dem sich alle apokalyptischen Bewegungen auseinandersetzen müssen: einleuchtende Auslegungen von Zahlenwerten (Gematrie), oder die überzeugenden Deutungen der traditionellen Schriften für eine kommende Erlösung, sie alle müssen sich zu einem Zeitpunkt X in der Realität der menschlichen Erfahrung niederschlagen. Und dieser Zeitpunkt darf nicht allzu weit in der Zukunft liegen, sonst geht die Dynamik verloren. Der Moment geht vorbei… Nichts passiert. Unfassbar die Szene, wie Nathan den päpstlichen Palast in Rom umschreitet, um in einem Akt der «praktischen Kabbala» das römische (christliche) Reich zum Einsturz zu bringen. Zum Glück sind die Daten biegbar: selbst der Tod des Messias kann nur einen weiteren Aufschub bedeuten, bevor er zurückkehrt.
Indem er ausführlich und quellennah berichtet, gelingt es Scholem zu zeigen, dass diese exzentrische Messias-Figur in den 1660er Jahren zentral wurde für das Judentum in der ganzen Diaspora, und eine wichtige Figur in der Geschichte des Judentums bleibt (auch wenn das orthodoxe Rabbiner ungern hören). Die Faszination des Messias ging über Klassen- und Landesgrenzen hinaus, und der Sabbatianismus lebte noch lange nach dem Tod von Messias und Prophet in der einen oder anderen Form fort.