Besprechung für The Yangtze Valley and beyond
Eine Engländerin reist Ende des 19. Jahrhunderts von Shanghai aus den Yangtze hinauf, dringt über Chengdu hinaus weit in den chinesischen Westen vor, wo von der Zentralregierung weitgehend unabhängige, tibetische geprägte Stämme leben. Die Reise mutet ein wenig irreal an, wenn man sich zum einen die Strapazen, zum anderen das Alter (fast 70-jährig) und die Konstitution der Reisenden (labile Gesundheit, über die sie aber nur wenige Worte verliert) vor Augen führt.
Sie reist in Dschunken oder in Sänften, mit einem Tross von bis zu 12 Trägern, Gepäckträgern und einem Diener. Zuweilen begleiten sie europäische Missionare auf kleinen Teilstücken, meist ist sie aber allein unter Chinesen. Ihr Diener ist auch Dolmetscher. Sie hat sich Papiere der Behörden besorgt, die ihre sichere Reise gewährleisten sollen. Eine kleine Szene zeigt, wie wenig Isabella Birds Route von Europäern begangen ist: sie macht sich Sorgen, dass eine chinesisch gekleidete Europäerin den Zorn der Chinesen auf sich zieht; es zeigt sich aber, dass die lokale Bevölkerung gar keine Vorstellung von europäischer oder wohl nicht-chinesischer Kleidung überhaupt hat. Weiter im Westen sind dann auch England oder Great Britain keine Begriffe mehr.
Die Landschaft wechselt auf der langen Reise, im ersten Teil steht im Zentrum die Flusslandschaft des Yangtze mit den Schluchten, Stromschnellen und Wasserfällen, für deren Überwindung bei grösseren Booten an den Ufern Hunderte von «trackern» bereitstehen. Eindrückliche Schilderung der Mühsal und der Gefahren dieser Arbeit. Im Westen geht es in die Berge, bis über 3000 Meter und einmal auch in einen gefährlichen nächtlichen Schneesturm. Detaillierte Beschreibung der Flora, und des Farbenspiels der Gebirgslandschaft.
Die Autorin nimmt den Reisealltag mit allen Sinnen wahr. Sie erzählt von «unbeschreiblichen» Gerüchen, denen sie in ihren Unterkünften, gern in Schweinestall-Nähe gelegen, ausgesetzt ist. Sie versucht gelegentlich den Gestank mit Räucherstäbchen zu überdecken. Dias olfaktorische Profil von Chengdu wird dominiert durch aus Tibet importiertes Moschus. Ganz im Westen geniesst sie dann die klare Bergluft. Hier scheinen die Schlafzimmer (manchmal auch nur die Flachdächer) weniger von Ratten und Ungeziefer heimgesucht zu werden. Die praktisch denkende Reisende hat aber auch eine gute Vorkehrung zum Schutz vor Ungeziefer zur Hand, nämlich ein mobiles Bett, das sie in den zugewiesenen Zimmern aufschlägt.
Chinesische Mentalität: wenn einer der Träger verletzt ist oder krank, würden ihn die anderen (seit Tagen mit ihm reisend) einfach zurücklassen. Sie lachen Isabella Bird aus, wenn sie die Sänfte dem Bedürftigen überlässt und selbst zu Fuss geht.
Sie notiert eine gewisse Aggressivität, die die Privatsphäre nicht respektiert, und bei Gelegenheit sich auch in Fremdenfeindlichkeit äussert: die Autorin macht Bekanntschaft mit gewalttätigen Mobs. «Foreign devil» und «child eater» sind oft verwendete Schimpfwörter; die Chinesen nehmen die Gefahr so ernst, dass sie den Kleidern ihrer Kinder das christliche Kreuz aufsticken, in der Hoffnung, dass dieses Symbol die Kannibalen zurückhält. Kinder sind unschuldig; die Beschuldigung sich an ihnen zu vergehen, in welcher Form auch immer, disqualifiziert so massiv wie nur möglich. Darum wohl die Beliebtheit dieser Anklage bei Aufhetzern, sei es gegen Juden, gegen die «Elite» (QAnon), oder hier gegen Europäer.
Ganz zu Beginn der Reise lässt die Autorin ihr Boot in einer Reihe mit anderen nach Hangzhou schleppen. Sie kann die neunköpfige Dreigenerationen-Familie auf dem Boot vor ihr den ganzen Tag beobachten, vom morgendlichen religiösen Räucherstäbchen-Ritual über die Tagesarbeit (vor allem der Mutter) bis zum abendlichen Opium-Rauchen (des Vaters). Opium ist sehr populär, die Autorin berichtet von Statistiken, wonach in den Städten bis zu 80% der Männer Opium rauchen. In einem separaten Kapitel am Schluss widmet sie sich diesem Thema nochmals; die Droge unterminiert massiv das soziale und wirtschaftliche Gefüge. Man fragt sich, wie es China gelungen ist, diese Suchtepidemie zu überwinden.
Auch über die christliche Mission äussert sie sich abschliessend in einem eigenen Kapitel, überwiegend positiv, wobei sie die grossen Probleme nicht ausblendet, denen sich die Mission gegenübersieht. Aus heutiger Perspektive wirkt das arg überheblich und paternalistisch. Isabella Bird war in einer Pfarrersfamilie aufgewachsen und hatte sich in Indien selbst als Missionarin versucht. Auch das Bild der Weissen, die sich von billigen chinesischen Arbeitskräften in einer Sänfte durch die Landschaft tragen lässt, wirkt heute befremdlich. Isabella Bird war in ihrer Zeit des britischen Imperialismus verwurzelt; aber der Leser gewinnt doch den Eindruck, dass sie im Rahmen dieses Selbstverständnisses in ihrer Berichterstattung um Fairness und Ausgewogenheit bemüht ist. In den „concluding remarks“ vermerkt sie, dass die Chinesen zu den freisten Völker der Erde, und in einem funktionierenden Gesellschaftssystem leben.
Man bewundert den Durchhaltewillen und die Entschlossenheit, mit der die Reisende den zahlreichen Schwierigkeiten trotzt, die Vielfalt ihrer Interessen und den Blick für Details, mit denen das Buch 120 Jahre später Zeugnis ablegt vom chinesischen Alltag aus einer westlichen Perspektive, wie es Geschichtsbücher nicht vermögen. Wer heute nach China reist, wird gewisse Parallelen in Mentalität und Auftreten der Einheimischen erkennen, bei allen gewaltigen Veränderungen, die sich seither ereignet haben. Für immer entschwunden ist die trotz massivem Schiffsverkehr Ende des 19. Jahrhunderts doch noch recht ursprüngliche, grossartige Flusslandschaft des Yangtze, von der Bird in Wort und Bild berichtet.
Zahlreiche Photographien, die Isabella Bird unterwegs aufgenommen hat, illustrieren den Text; eine entnehmbare Karte ist eingefügt. Sehr hochwertiges Buch, mit einem schönen, geprägten Feinleinen-Cover, das eine Flusslandschaft zeigt.