Besprechung für Lehrjahre der Männlichkeit
Ressentiments schaffen keine grossen Romane. Aber die ungeheure Energie, die in Flauberts Meisterwerk steckt, speist sich auch aus dieser Quelle. Die grosse Kunst Flauberts liegt darin, wie er diese Energie bändigt und diszipliniert, wie er sie einsetzt. Jederzeit ist die Elastizität, die Kraft dieser Prosa auch unter der zuweilen ruhigen Oberfläche zu spüren.
Nur in ausgewählten Momenten lässt der Autor die Zügel schiessen, so etwa, wenn sich nach vielen Seiten und Jahren der Held Frédéric und Mme Arnoux endlich ihre Liebe eingestehen, eine wahrhaft kitschige Szene, die Flaubert auskostet, nur um sie dann zu konterkarieren mit einer grausamen Demütigung und Trennung der beiden. Gern spitzt der Roman das Spiel von Schein und Sein zu: Mme Dambreuse, Frédérics adlige Geliebte, pflegt hingebungsvoll ihren dahinsiechenden Gatten, und wird dafür von ihrer Umgebung bewundert. Kaum ist er gestorben, enthüllt sie vor Frédéric ihre wahren (Hass-) Gefühle für den nichtsnutzigen Ehemann, der eine «Bastardin», getarnt als Nichte, in die Familie eingeschleppt hatte, der er am Ende zu allem Überfluss auch noch sein Vermögen vererbt.
Mitten in den Revolutionswirren lässt der Autor Frédéric mit seiner Mätresse Rosanette nach Fontainebleau ins Grüne fahren. Ungebremst enthusiastische Schilderung des Landlebens; die Figuren gehen förmlich auf im Naturschönen. Das ermöglicht Momente von grosser Intimität. So viel Empathie hätte man eigentlich weder Frédéric noch Rosanette zugetraut. Ein isoliertes Idyll.
Der Junge aus der Provinz sucht und schafft sich einen Platz in der Pariser Gesellschaft, von den Anfängen als Jurastudent am Rand der Bohème bis zum wohlhabenden Müssiggänger, dank einer Erbschaft. Er erreicht, wovon er geträumt hat: standesgemässe Geliebte, Mätresse, Wohnung und Kutsche, Einladungen zu Abendgesellschaften. Aber er bleibt an der Oberfläche hängen, weder für Politik noch fürs Geschäft entwickelt der Held ein Interesse, obwohl es in Zeiten der Umwälzungen rund um 1848 viele Chancen zum Aufstieg gebe. Hat Frédéric gar zu viele Optionen? Im kleinen Heimatort Nogent-sur-Seine könnte er die Tochter des reichen Nachbarn heiraten, Wunsch auch seiner Mutter. Aber er fürchtet, in der Provinz zu «versumpfen». Sowohl Madame Dambreuse wie auch die Mätresse Rosanette (die ein Kind von ihm gebiert, das allerdings früh stirbt) wollen ihn heiraten; die Pläne zerschlagen sich, genauso wie die zaghaften Versuche, im postrevolutionären Frankreich in der Politik Fuss zu fassen. Flaubert schafft ein vielfältiges, höchst verwirrendes Tableau dieser Zeit, er lässt Frühsozialisten genauso zu Wort kommen wie erzreaktionäre Katholiken, die Standpunkte und Positionen sind dauerndem Wandel unterworfen, Frédéric lässt sich hierhin und dorthin treiben, bleibt aber immer Zaungast.
Frédérics einzige wahre Leidenschaft scheint Mme Arnoux zu gelten, wobei der leise Verdacht den Leser beschleicht, dass er einer Realisierung dieser Liebschaft vielleicht auch ausweicht, um einer Enttäuschung wenigstens dieser Passion vorzubeugen.
Frédéric ist in ein Netz von Beziehungen eingebunden, die jede ein eigenständiges Profil hat. In vielen subtilen Variationen wird die Dialektik von Annäherung und Entfremdung durchgespielt, am intensivsten zwischen Frédéric und Mme Arnoux. Und die Dynamik einer Beziehung wirkt natürlich auch auf die anderen ein. Drei für Frédéric wichtige Frauen begegnen sich in einer grossartigen Szene des Romans: an einem Pferderennen demütigt Frédérics Mätresse Rosanette von Kutsche zu Kutsche Mme Arnoux; auch Mme Dambreuse, die zukünftige Geliebte, die sozialen Aufstieg verspricht, beobachtet Frédéric und Rosanette. Nicht nur die Jockeys stehen hier im Wettbewerb. Nach dem Rennens stehen die Kutschen, in unterschiedlichsten Typen und Ausstattungen Statussymbolen gleich, im Stau.
Am Ende des Romans und in schon fortgeschrittenem Alter ist der grösste Teil von Frédérics Vermögens aufgebraucht, er lebt als «Kleinbürger» und blickt zusammen mit seinem aus ärmeren Verhältnissen stammenden Jugendfreund Deslauriers auf ein «verpfuschtes Leben» zurück. Auch hier wieder die Dialektik einer Beziehung: Immer wieder haben sich die beiden im Stich gelassen oder hintergangen, immer wieder finden sie zu einander. Zuletzt erinnern sie einen abgebrochenen Bordellbesuch in der Provinz ihrer Jugendjahre, als «im Leben das beste!». Einfach eine weitere Provokation Flauberts? Vielleicht nicht nur: die Jahre der Annäherung an das grosse Leben, die Träume der Provinzjungen, die Zeit der Projektionen und Phantasien, des préludes, scheinen im Rückblick nicht so übel.
Sehr engagierte, insgesamt überzeugende Übersetzung; der Leser stösst sich nur an einigen wenigen Stellen (s. die Anmerkungen zu der Übersetzung unten; natürlich sind das nur Stichproben, und auch kein systematischer Vergleich mit früheren Übersetzungen); kluges Nachwort und hilfreiche Anmerkungen, in der superben Ausgabe der Hanser-Klassiker.