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Besprechung für Die Jakobsbücher

Moritz T. Keine Kommentare
Besprechung:

Ein unfassbar reichhaltiges Buch, das die Autorin mit grosser Erzählkunst dann doch in eine Fassung bringt. Was ist dieser  Roman nicht alles: ein Portrait der untergegangenen polnisch-galizischen jüdischen Welt, ein facettenreiches Anschauungsbeispiel für die Funktionsweise einer Sekte, eine Studie zur Kabbala und ihrer Praxis im 18. Jahrhundert, eine Geschichte des Mit-, Neben- und Gegeneinander der Religionen in Mitteleuropa, ein Buch übers Reisen und den Warenhandel in dieser Zeit, und so vieles mehr!

Im Mittelpunkt steht die Sekte der Frankisten:

Sie erzählen sich Träume und deuten sie; sie tauschen Partner (unter Anleitung des Anführers) und haben Sex vor den Augen der anderen; sie beten gemeinsam, sie singen, sie spielen Kinderspiele; Privatbesitz wird abgetreten an die Gemeinschaft; in Erwartung der Erlösung; idiosynkratische Deutung der Religionsgeschichte; das Unwahrscheinlichste wird für wahr gehalten, solange es Jakob Frank erzählt: dass unterirdisch alle Höhlen der Welt miteinander verbunden sind und Hallen voll Gold auf die Rechtgläubigen warten, dass die Schechina, die Gegenwart Gottes, die Erlösung, in einem Ölbild der Madonna im Kloster von Tschenstochau gefangen gehalten wird; Rituale, gemeinsame Bestrafung von Gruppenmitgliedern bei einem Versagen.

Eine ungemein enge Verzahnung wird hier vorgeführt, die die Familien über Generationen prägt. Die Rechtgläubigen werden dazu angehalten, nur untereinander zu heiraten. Heterogene Zusammensetzung, die Gruppe ist immer bereit, neue Mitglieder willkommen zu heissen, aber dann deutliche Abgrenzung von der Aussenwelt, grosse Kohäsion.

Alles unter der charismatischen Führung Jakob Franks, der geschickt das noch virulente, aber weit verstreute Erbe des mystischen Messias Sabbatai Zwi, der 1676 gestorben ist, antritt. In der Phase der Erlösung respektive kurz davor müssen bestehende Gebote übertreten werden; der Erlöser muss an die dunkelsten Orte gehen (zB in den Kerker im Tschenstochauer Kloster), um den Glanz der Ewigkeit herbeizuführen. Wenn es sich ergibt, wie dann in Brünn oder Wien, ist aber Jakob Frank weltlichem Luxus durchaus nicht abgeneigt. Zwar misslingen Versuche der Sekte, Gold zu fabrizieren; aber Frank versteht es immer wieder, sich Geld zu beschaffen von seinen Anhängern, oder er lebt verschwenderisch auf Pump.

Natürlich, ist man versucht zu sagen, stellt Frank seinen Anhängern den ultimativen Gewinn in Aussicht: das ewige Leben. Aber die Faszination Franks rührt auch daher, dass er ein Sozialrevolutionär war, der für kurze Zeit in Iwanie mit seiner Gemeinschaft eine Utopie lebt, mit gleichberechtigten Frauen und Gemeinschaftsbesitz. Von der Autorin wird diese Idylle tendenziell überzeichnet; aber im Romanganzen ist das sehr stimmig, es lotet quasi das positive Potential des Frankismus aus, ohne dass das herrische, zur Willkür neigende Temperament des Anführers ganz ausgeblendet wird, der dann unter schwierigeren Bedingungen in Warschau und Tschenstochau in diktatorischer Manier regiert und seine Anhänger gern auch demütigt.

Der Frankismus, oder wenigstens was man heute noch darüber weiss, mutet fremd an. Tokarczuk bettet aber die Sekte in ihre Zeit ein, sie zeigt Berührungspunkte und den Dialog mit dem traditionellen Judentum oder dem Katholizismus, zu dem sich die Sekte bekehrt. Oder, vorsichtiger ausgedrückt: die Mitglieder lassen sich taufen – wobei politisch-praktische Gründe (Protektion der polnischen Bischöfe) mindestens so stark wiegen wie religiös-spirituelle (Dreifaltigkeit als wichtiges Element, Vereinigung der drei abrahamitischen Religionen; Frank war zuvor schon – aus rein politischen Gründen – zum Islam konvertiert).

Der Roman porträtiert mit der kabbalistischen Familie Schor in Rohatyn (in der heutigen Ukraine) wundervoll anschaulich das Milieu, das für die Lehren Jakob Franks besonders empfänglich war. Ein Unfall in magischer Praxis beschert uns eine unvergessliche Figur aus dieser erweiterten Sippschaft: Die uralte Jenta soll noch Warten mit dem Sterben, damit eine anberaumte Hochzeit von statten gehen kann. Jenta verinnerlicht die Botschaft buchstäblich, und kann dann gar nicht mehr sterben. Sie versteinert oder kristallisiert sich später in einer Höhle. Dank der panoptisch begabten Jenta kann der Roman durch Raum und Zeit und auch kurz den Holocaust streifen, der die hier beschriebene Welt vernichtet, und ganz am Ende schaut Jenta verständnislos der Autorin «mit eigenwilliger Frisur» beim Schreiben am Computer zu.

Tokarczuk erfindet auch einen Briefwechsel zwischen zwei historisch verbürgten Figuren, einem bibliophilen, schreibenden Priester und einer Gesellschaftsdame und Dichterin, die am Rande mit den Frankisten in Berührung kommen. Die wichtigste fremde Stimme im Roman sind aber die «Reste», die der treue Gefolgsmann der ersten Stunde Nachman Samuel Ben Lewi (nach der Taufe umbenannt in Piotr Jakubowski) heimlich zu Papier bringt: Reden Jakobs, Ereignisse in Jakobs Umfeld – eine Innensicht der Sekte.

Der Roman zeichnet den Weg der Frankisten aus der Türkei (Smyrna/Izmir) und Griechenland (Saloniki) nordwärts in die Ukraine und dann westwärts nach Polen, Brünn und Wien und schliesslich an den Main, wo ein Gönner der Sekte in Offenbach ein Schloss zur Verfügung stellt. Laufend werden auf den knapp 1200 Seiten neue Figuren hinzugefügt, vertraute Figuren wechseln die Namen, dazu kommen die verschiedenen Stimmen und diverse Nebenstränge: das ist gelegentlich etwas verwirrlich, aber dennoch schafft es die Autorin, den Roman zusammen und den Leser bei der Stange zu halten. Wie? Indem sie nicht nur Material anhäuft, sondern die Geschichten in unzähligen Einzelheiten und Korrespondenzen lebendig werden lässt: wir riechen, schmecken, fühlen, hören und sehen wie sich der Alltag in Iwanie gestaltet, wie es sich im Kloster in Tschenstochau lebt, oder – massiver Kontrast – in Brünn.  Durch das abendliche, frühwinterliche Rohatyn gehen wir mit dem Arzt Ascher Rubin, der sich überlegt, wie andere die Welt wohl wahrnehmen und wie die Dinge zusammenhängen.  «Die wahre Weisheit liegt in der Kunst alles mit allem zu verbinden; dann erst tritt die wirkliche Gestalt der Dinge zutage.»

Diese Poetik des Details wird ergänzt von einer Poetik des Fremden: sich dem Fremden aussetzen ist wertvoll, verheisst Erkenntnisgewinn. Hierin stimmen die Autorin und ihr Held Jakob Frank überein, dem sie die Worte in den Mund legt: Das Fremdsein «gilt es mit aller Sorgfalt zu bewahren, denn aus ihm fliesst eine grosse Kraft.»

Die Frankisten sind uns auch darum fremd geblieben, weil weder die katholische Kirche noch das orthodoxe Judentum Interesse hatten, das Erbe Franks in Erinnerung zu halten; Jakob Franks Theologie war eine Bedrohung oder mindestens eine Herausforderung. Olga Tokarczuk stellt die verdrängte Odyssee dieser Sekte in den Mittelpunkt und gewinnt uns ein Stück mitteleuropäischer Geschichte zurück.

Eindrückliche Übersetzungsleistung von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Ihr Erfahrungsbericht in TOLEDO — Journale — Die Funken der Erlösung. (toledo-programm.de) ist lesenswert.

 

 

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