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Besprechung für Secondhand-Zeit

Moritz T. Keine Kommentare
Besprechung:

Stockholm liegt in der Sowjetunion

Swetlana Alexijewitsch hat zwischen 1991 und 2012 Geschichten, Stimmen, Gedankensplitter gesammelt, die die Stimmung in der ehemaligen Sowjetunion nach deren Untergang dokumentieren. Die Autorin hält sich – von einzelnen kurzen Kommentaren und knappen Einführungen abgesehen – im Hintergrund und überlässt den Zeitzeugen das Wort.

Siebzig Jahre lang hat die Sowjetunion Denken und Fühlen von Generationen seiner Bewohner imprägniert, den homo sovieticus geprägt. Wenn man vielleicht im Westen der Illusion anhing, dass dieser Typus Mensch sang- und klanglos mit dem roten Riesenreich verschwindet, so konnte man spätestens in diesem Buch eines Besseren belehrt werden. Die Aufbruchsstimmung, die 1991 wenigstens in einem Teil der Bevölkerung vorherrschte, wich alsbald der Ernüchterung. Raubritter bestätigten die schlimmsten Klischees der kommunistischen Doktrin zum Kapitalismus; viele fanden sich nicht in der neuen Ordnung zurecht. In manchen Gesprächen manifestiert sich eine tiefsitzende Abscheu gegen den Handel, das Kaufen und Verkaufen, aber auch eine Orientierungslosigkeit ohne die engen staatlichen Leitplanken. Früher gab es die „Prawda“; auch wenn man gewusst hat, dass die Zeitung nicht die Wahrheit druckt, so gab sie doch vor, was man offiziell zu glauben hatte.

Auch 50 Jahre und mehr nach seinem Ende zeigt sich die herausragende Bedeutung des Zweiten Weltkrieges. Mit ihrem Sieg gegen Nazideutschland hat sich die Sowjetunion weitegehend immunisiert gegen Kritik von innen. Eine traumatisierte Generation blieb im inneren Kriegszustand, der jede Grausamkeit und Härte, auch gegen sich selbst, rechtfertigte. Dieses Leben war aber für viele nur mit der täglichen Portion Alkohol zu ertragen, in vielen Gespräch spielt der Wodka – und damit verbunden – häusliche Gewalt eine prominente Rolle. Diese Erfahrungen strahlen bis heute aus, auch auf Ehefrauen, Kinder und Enkel. Im Vordergrund stehen Heimat, Heldentum, soldatische Ehre, anti-westliche Reflexe – die kommunistische Vision scheint hier eher sekundär, auch wenn immer wieder der Stolz über die soziale und wirtschaftliche Leistung der Sowjetunion zum Ausdruck kommt.

Erschreckend ist die Identifikation mit dem sowjetischen Staat bei den Menschen, denen er unsägliches Leid angetan hat. Ein Mann wurde unschuldig ins Lager gesteckt, er wurde gedemütigt, war sadistischen Peinigern ausgeliefert; seine Ehefrau, die denunziert worden war, wurde getötet. An seinem Glauben an die Sowjetunion änderte das nichts, er meldete sich freiwillig für den Krieg gegen die Deutschen. Das Gespräch endet mit den Sätzen: „Ich will als Kommunist enden, das ist mein letzter Wunsch…“ (Kapitel „Von einer anderen Bibel und anderen Gläubigen“).  Das kommunistische Regime erscheint in diesen Erzählungen wie ein grausamer Geiselnehmer, der seinen Opfern keinen Spielraum lässt und sie dazu bringt, ihn als Heilsbringer zu begreifen. Ein Stockholm-Syndrom gigantischen Ausmasses. –

Alexijewitsch trägt Gespräche aus verschiedenen Teilen der ehemaligen Sowjetunion zusammen. Und sie lässt beispielsweise auch tadschikische Gastarbeiter in Moskau zu Wort kommen, die sich des grassierenden Rassismus‘ erwehren müssen. Ist die Auswahl von Lebenswegen und Meinungen repräsentativ? Diesen Anspruch erhebt die Autorin nicht, aber es sind wohl typische Stimmen, die meist dem sowjetischen Alltag nachtrauern. Selbst wo sich einmal eine jüngere Frau verabschiedet vom (post-)sowjetischen Leben und eine erfolgreiche Karriere als „Werbemanagerin“ einschlägt , wie im Kapitel „Von Einsamkeit, die fast aussieht wie Glück“, erscheint die Radikalität der Absetzbewegung wie ein Reflex sowjetischer Rigorosität.

Das sehr verdienstvolle, zugleich deprimierende oral history-Werk ermöglicht Einblicke in das Innenleben der zerfallenen Sowjetunion, wie dies ein herkömmliches Geschichtsbuch kaum je vermag.

 

 

 

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