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Besprechung für Helgoland

bheym 3 Kommentare
Besprechung:

Für die weniger als zweihundert Seiten nimmt der Physiker und Quantentheoretiker Carlo Rovelli den Leser auf eine lange Reise mit. Sie beginnt mit einem der Väter der Quantentheorie, Werner Heisenberg, auf Helgoland und seinen dort verfassten bahnbrechenden Arbeiten zur mathematischen Darstellung von bis dahin rätselhaften Quantenphänomenen. Im weiteren Verlauf kommt Rovelli an vielen geistes- und literaturgeschichtlichen Größen vorbei, bei denen selbst Namen wie Marx und Lenin nicht fehlen dürfen. Schließlich mündet der Ritt in eine neue Sicht der Quantentheorie, die den relationalen Aspekt radikal in den Vordergrund rückt und postuliert, dass Objekte sich erst in der Wechselwirkung zu anderen Objekten manifestieren.

Rovelli schlägt bei alldem einen großen Bogen. Dabei geht es weniger um das Erklären und Verständlichmachen der Quantentheorie, sondern eher mehr um mögliche Interpretationsansätze ihrer Phänomene. Dies verleiht dem Buch das Gepräge einer philosophischen Abhandlung, in der desöfteren Begriffe wie „Grundsubstanz“ der Welt und „metaphysische Vorurteile“ fallen. Gemessen an der doch eher akademischen Thematik liest sich der Text überraschend flüssig, weil er ansprechend geschrieben ist, anekdotische Züge aufweist und stets nahe bei den Protagonisten der Quantentheorie bleibt, aus deren Leben man immer wieder die eine oder andere interessante Begebenheit erfährt. Durch biografische Anmerkungen aus der eigenen Gefühls- und Gedankenwelt erhält das Buch eine persönliche Note.

Rovelli geht eher historisch als systematisch vor, was die verschiedenen Meilensteine in der Physik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhinderts in ihrer Abfolge durchaus nachvollziehbar nachzeichnet. Man sollte als Leser dabei allerdings nicht den Anspruch erheben, ein vertieftes Verständnis der diskutierten Phänomene zu erlangen, trotz der an verschiedenen Stellen dargebotenen Skizzen, die nur bedingt helfen – im Gegenteil, es wird mehrfach betont, dass ein echtes Verstehen der quantenphysikalischen Phänomene gar nicht möglich sei. Kritisch mag man anmerken, dass die neue relationale Sicht der Quantentheorie zwar durchaus plausibel und elegant anmutet, dabei aber offen bleibt, was damit am Ende gewonnen ist und welche Ansatzpunkte etwa sich dabei für die weitere Forschung ergeben könnten. Dabei sollte man sich als geneigter Leser aber immer vor Augen halten, dass die Frage, was denn der praktische Nutzen sei, bei Grundlagenforschern zu den unbeliebtesten überhaupt gehört.

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Moritz T.

Zu Deiner Kritik am Schluss: Der Autor schreibt am Ende, dass die Physik ihn mit der „Entdeckung von mehr Märchenschlössern belohnt hat, als ich erhofft hatte.“ Kann man daraus schliessen, dass für Rovelli die Quantenphysik die Welt als Ganzes verzaubert, es ist ein anderes Erleben, wenn man der allgegenwärtigen Relationen gewahr wird. Es bleibt dann sekundär, wie sich die Relationale Quantenphysik in der praktischen Anwendung manifestiert. Abwendung von der Physik, Hinwendung zu der Philosophie, oder zu  τὰ μετὰ τὰ φυσικά …

Moritz T.

Fair enough. Aber als leises Defizit würde ich dann dennoch vermerken, dass Rovelli dieses Erleben nicht konkreter, anhand von Beispielen vermittelt. Ein Waldspaziergang würde sich doch anbieten, um sich der omnipräsenten Relationen bewusst zu werden. Oder die Vergegenwärtigung des Mikrobioms. Oder die Welt der Träume. Etc.
Wobei er sich dann natürlich auch der Frage nach der Übersetzung von der Mikro- in die Makrowelt nochmals anders stellen müsste, oder inwieweit denn das Reden von Alltags-Erlebnissen sich in legitimer Weise auf Laborbefunde beziehen kann.

Last edited 2 years ago by Moritz T.

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