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Besprechung für Im Menschen muss alles herrlich sein

Moritz T. Keine Kommentare
Besprechung:

Vier Frauen und eine Giraffe spielen die Hauptrollen in diesem Roman von Sasha Marianna Salzmann.

Die Giraffe (Giraffe, c.1905 – Niko Pirosmani – WikiArt.org) findet sich auf einem Gemälde des georgischen Malers Pirosmani  (1862 – 1918), der erst postum internationale Anerkennung als Vertreter der naiven Malerei fand. Er hatte die Giraffe gemalt, ohne je ein Exemplar zu Gesicht zu bekommen. Der Hals ist zu kurz und kräftig, die Fellzeichnung erinnert eher an einen Dalmatiner.

Edita ist fasziniert von dem Gemälde, das ihr one-night-stand Dea sich hat tätowieren lassen. Sie versucht sich auch ein Bild zu machen von etwas, das sie nie selbst gesehen respektive bewusst erlebt hat: Von der (Ex-) Sowjetunion und der Ukraine, aus der ihre Eltern nach Deutschland emigriert sind, als Edita noch ein Kind war.  Edita kann die widersprüchlichen und lückenhaften Informationen ihrer Familie nicht zu einem Ganzen zusammensetzen.

Eine Pointe des Romans: Auch ihre Mutter Lena, die doch in der Sowjetunion aufgewachsen war und in der dann unabhängigen Ukraine als Ärztin gearbeitet hatte, schafft sich kaum ein klares Bild dieser Zeit, vielleicht auch aus Gründen des Selbstschutzes. Sie erleidet ihr Leben mehr, als dass sie es gestaltet, sie ist den Rahmenbedingungen ausgeliefert, und durchschaut die Mechanismen der Sowjetherrschaft und anschliessend der wilden kapitalistischen Periode nur bedingt. Mehr als die Hälfte des Buches schildert das eher trübselige, zuweilen unglückliche Leben Lenas, bis zur Geburt Editas und der anschliessenden Emigration.

Die Perspektive wechselt dann zu Edita, die in ihren Zwanzigern versucht, sich in Berlin als Journalistin durchzuschlagen. Allzu sehr wird in diesen Passagen der Gegensatz junge lesbische grossstädtische Intellektuelle hier, provinziell-traditionelle, nach Osten orientierte jüdische Mischpoche dort ausgereizt, die Entfremdung und Distanz wirkt überzeichnet. Erst zur Feier eines runden Geburtstags ihrer Mutter fährt Edita zusammen mit Tatjana, einer Freundin ihrer Mutter, wieder nach Jena, wo sich die Familie angesiedelt hat.

Tatjana ist eine weitere Protagonistin des Buches. Ihr Leben in den ukrainischen Städten Mariupol und Kriwoj Rog ist ähnlich trostlos wie dasjenige Lenas, und erst recht ohne Perspektive. Der Versuch von Tatjanas Familie, «wie die Amerikaner zu leben» und mit illegalen Spirituosengeschäften reich zu werden, will nicht so recht gelingen. Ein deutscher Ganove schwängert Tatjana und bringt sie nach Deutschland, wo er sie dann sitzen lässt.

Tatjanas Tochter Nina ist die einzige der vier Frauen, die aus der Ich-Perspektive erzählt. Sie hat sich in ihrem Zimmer vergraben, wo sie die Tage mit online-Spielen verbringt, sie weist autistische Züge auf. Sie hat den Kontakt zur Familie, das heisst zu Tatjana, abgebrochen, aber auch zu Edita, die sie seit  Kindertagen kennt. Ein im Vergleich sehr knappes Portrait.

Die desperate Schlussszene, die allerdings zu Anfang des Buches erzählt wird, bringt die zwei Mütter und die zwei Töchter zusammen, nachdem die Geburtstagsfeier Lenas etwas aus dem Ruder gelaufen war. Das Unverständnis und die Sprachlosigkeit lassen sich nicht durchbrechen.

Ein vielschichtiges Buch: Wir erleben die Endphase der Sowjetunion aus der Perspektive eines Kindes und einer jungen Erwachsenen, die Jahre des Wilden Ostens danach mit ihren Verwerfungen in der Arbeitswelt, zwischen den Ethnien oder in den prekären Beziehungen Frau/Mann. Die Geschichte der Ukraine und das schwierige Verhältnis zu Russland wird thematisiert, der Roman spielt zuletzt im Jahr 2017 – man liest das im Jahr 2022 sehr hellhörig.  Das Elend der Emigration wird sichtbar, und wie sie Konflikte zwischen den Generationen verschärft. Die Erzählung findet eine gute Balance von Vertiefung einzelner Szenen und grosszügigen Zeitsprüngen, die die Kohärenz nicht leiden lassen. Über gewisse Längen liest man hinweg und freut sich immer wieder über gelungene, originelle Metaphern, mit denen die Autor*in die Gefühlslagen ihrer Heldinnen veranschaulicht.

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