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Besprechung für Kopfkissenbuch

Moritz T. Keine Kommentare
Besprechung:

Das Kopfkissenbuch gibt Einblick in das Leben am japanischen Kaiserhof um das Jahr 1000, dabei ein weites Themenspektrum abdeckend: es handelt von den Farben und ihren Bedeutungen (violett, purpur!), von den Jahreszeiten, von Spielen (Go wird mehrfach erwähnt), von Saiteninstrumenten, Blumen oder Vögeln. Aber auch vom Umgang mit dem Niesen, oder davon, «was sich unangenehm anhört», oder «was nachts besser zur Geltung kommt», beispielsweise «das Geräusch eines Wasserfalls». Gelegentlich erinnern die kurzen Texte an Rubriken aus modernen Wochenblättern oder Blogs, die Stil-Fragen verhandeln, zum Beispiel „Was nicht gut aussieht“, nämlich: „Wenn jemand sein Gewand so trägt, dass die Rückennaht zur Seite hin verschoben ist.“

Es ist eine Auslegeordnung des Lebens, die uns Sei Shonagon präsentiert, und das ist 1000 Jahre später ungemein reizvoll zu lesen, nur gelegentlich etwas langweilig, wenn die Aufzählungslust überhandnimmt und wir Listen von Brücken, Brunnen, Buchten oder von Seen, Stränden, Schluchten zur Kenntnis nehmen. – Das Kopfkissenbuch ist aber auch ein Buch, in dem die Ich-Erzählerin gern von sich erzählt und dezidiert ihre Meinung kundtut. Wir erfahren, wie sie ihre Rolle als Hofdame meistert und zu einer Favoritin der jungen Kaiserin wird. Sie ist eine hervorragende Kennerin der Literatur, und das verschafft ihr rasch Ansehen, denn Gespräche und Korrespondenzen zwischen den Hofleuten sind gespickt mit literarischen Anspielungen. Wer eine passende Gedichtzeile zitiert, siegt im Dialog-Wettkampf, wie eben meist unsere Heldin. Vereinzelt berichtet die Ich-Erzählerin auch von ihren Niederlagen; einmal handelt sie sich wegen einer missglückten Wortwahl, die die anderen Hofdamen in schlechtem Licht erscheinen lässt, einen Tadel der Kaiserin ein.

Das alles wirkt sehr abgehoben vom Alltag der nicht-adligen Japaner, für die die Hofdame wenig übrighat; Erwähnung finden sie, wenn sie den ästhetischen Genuss stören: «Zum schönen Schein des Vollmonds passt es auch nicht, wenn Lastkarren umherfahren.»
Natürlich ist die Autorin damit einfach auch ein Kind ihrer Zeit und ihrer Klasse. Ihre Zeit- und Zunftgenossin Murasaki Shibiku, Autorin des anderen grossen Klassikers aus der Heian-Periode (794-1185), der Geschichte vom Prinzen Genji, zeiht Sei Shonagon allerdings der Oberflächlichkeit und der Einbildung. Shibiku gehörte zu einer anderen Partei als Shonagon am intrigenreichen Kaiserhof; es gibt im Kopfkissenbuch hier und dort (im Anhang entschlüsselte) Hinweise auf die Zeitgeschichte, die für die von Shonagon hochverehrte Kaiserin kein gutes Schicksal bereithielt. Die Autorin musste nach Entmachtung und Tod der Kaiserin den Hof verlassen.

Im Vordergrund steht aber der höfische Alltag, Klatsch, Spiel, Zeitvertreib, Feierlichkeiten, bei denen die Wahl der Kleider (wie viele Lagen? welche Farben? welcher Stoff?) eine grosse Rolle spielt, mit denen erotische Signale ausgesandt werden. Immer wieder ist von nächtlichen Herren-Besuchen die Rede, die vor der Morgendämmerung zu beenden waren. Die Kavaliere waren dann gehalten, sofort einen «Morgenbrief» an die Geliebte zu senden.

Aus der Distanz betrachtet fällt auf, wie die japanische Gesellschaft bei allen Veränderungen über die Jahrhunderte in manchen Bereichen eine bemerkenswerte Kontinuität aufweist. Die Bedeutung des Ästhetischen, das nach wie vor den japanischen Alltag durchdringt, war am Heian-Kaiserhof sehr ausgeprägt. Der Leser registriert die Koexistenz der Religionen, die auch heutige Japan-Besucher aus dem Westen frappiert. Auch eine starke Beachtung von Hierarchien zeigt sich schon im Kopfkissenbuch. Am Hof gibt es insgesamt 32 verschiedene Ränge, angefangen beim Unteren 8. Rang 2. Klasse. –
Darüber und über vieles mehr klären 861 Fussnoten, Nachwort, ein Glossar und ein Personenverzeichnis auf, die die geschmeidige Übersetzung ergänzen – die erste vollständige deutsche. Dank gebührt dem Herausgeber und Übersetzer Michael Stein, der damit dieses in Japan längst kanonische Buch erst so richtig für unseren Sprachraum erschliesst. Mit seiner Mischung aus Essays, Listen und Episoden aus dem Palastleben wirkt das Kopfkissenbuch verblüffend modern, frisch und leicht zugänglich.

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