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Besprechung für The Tale of Genji

Moritz T. Keine Kommentare
Besprechung:

Wenn sich der Zivilisationsgrad einer Gesellschaft an der Vielfalt der geltenden Codes bemisst, dann ist die japanische Heian-Arä (794-1185) definitiv eine Hochkultur: Kleider, Farben, Haarschnitt, Ausdrucksweisen, Tabus, Hierarchien, Wohnungseinrichtung, Rituale der Jahreszeiten – alles unterliegt vielfältigen Codierungen, die den Menschen Orientierung geben, aber auch sehr beengend wirken können. Das Buch steht ganz im Banne der Ästhetik. Schönheit ist ein entscheidender Trumpf am japanischen Kaiserhof um das Jahr 1000, den die Hofdame Murasaki Shikibu im „ältesten Roman der Welt“ beschreibt; wenn dazu noch eine kaiserliche Abstammung kommt wie bei Genji, dann steht einer Karriere als eine Art Superheld der Liebe nichts mehr im Weg. Genji kommt dabei eher zugute, dass er nicht in der Thronfolge steht, und er sich allerlei Freiheiten herausnehmen kann, bis hin zur Zeugung eines Sohns und zukünftigen Kaisers mit seiner Stiefmutter.

Seine Erscheinung wird immer wieder als überwältigend geschildert, und es ist schwierig, den Überblick über seine zahllosen Affären zu behalten. Aber es gibt Frauen, die seiner Schönheit widerstehen. Der mehr als 1’200-seitige Roman zieht seine Substanz im Wesentlichen aus diesem Widerstand und der Zermürbung dieses Widerstands; auch nach Genjis Tod wiederholt sich dieses Muster, als sein Stiefsohn Kaoru, mit weniger Charisma und Fortüne, dafür mit einem unwiderstehlichen Geruch begabt, auf den Spuren Genjis wandelt. In endlosen Variationen wird die Dialektik des Verlangens und der Abwehr durchexerziert, über Dutzende von Seiten, mit subtilen Manövern auf beiden Seiten – intensive, dichte Passagen. Oft ist die Situation für die Frauen schrecklich, die dieses unnachgiebige Begehren (bis hin zu mutmasslichen Vergewaltigungen) erdulden müssen, und zuweilen keinen Ausweg mehr sehen, ausser Tod oder Nonnentum; ein Nachgeben könnte gesellschaftliche Ächtung mit sich bringen, ein Widerstehen gegenüber den hochadligen Freiern ist aber auch sehr schwierig, zumal die Männer sich manchmal auch die Hilfe der Bediensteten der Frauen zu sichern wissen. Exemplarisch steht dafür die Belagerung von drei Nichten Genjis ohne Hausmacht, die im Wesentlichen die Handlung der letzten 12 Kapitel  nach dem Tod Genjis (von insgesamt 54 Kapiteln) ausmacht. Kaoru und sein Rivale Niou versuchen die Gunst der in einem abgelegenen Bergdorf wohnenden Frauen zu gewinnen. Das endet mit dem Tod der ältesten und dem Suizidversuch der jüngsten der Schwestern, Ukifune. Die Rivalität zwischen Kaoru und Niou repliziert diejenige zwischen ihren Grossvätern, To no Chujo und Genji. Niou verschafft sich mit einer List Zugang zu Ukifune, die sich in ihn verliebt, obwohl sie unter dem Schutz Kaorus steht. Niou entführt die hin- und hergerissene Ukifune in einem Boot zu einem verlassenen Haus – eines der populärsten Motive in der reichhaltigen künstlerischen Rezeption des Romans.

Die subtilen psychologischen Schilderungen der Autorin muten häufig erstaunlich vertraut und modern an. Aber ein grosser Reiz des Romans besteht auch darin, dass wir eine (mindestens für den westlichen Leser) exotisch anmutende Welt kennenlernen, in der (chinesische) Poesie und buddhistische (und, weniger prägnant, shintoistische) Rituale die Kommunikation und den Alltag dominieren. Hunderte von Briefen gehen zwischen Männern und Frauen hin und her, und keiner kommt aus ohne ein Zitat oder eine Anspielung auf poetische Werke (die zuverlässig in den zahlreichen Fussnoten aufgelöst werden). Nicht nur mit dem Inhalt der Briefe werden aber Botschaften übermittelt; der Wahl und der Parfümierung des Papiers, dem Schreibwerkzeug, oder der Verpackung (gern mit einem Kirschblütenzweig verziert)  kommen grosse Bedeutung zu.

Genji ist selbstverständlich auch dichterisch und malerisch sehr begabt, er ragt in allen Aspekten heraus. Neben gewissen Verpflichtungen am Hof als hochrangiger Beamter kann er sich seinen Hobbies und vor allem seiner grossen Leidenschaft, den Frauen, frei widmen. Seine materiellen Mittel scheinen kaum begrenzt zu sein, er verfügt über diverse Wohnsitze, in denen er seine Frauen aushält, trägt die edelsten Kleider, und macht die teuersten Geschenke. Allerdings wird er – wegen einer weiteren Affäre natürlich – für eine Zeit vom Hofe verbannt. Er nutzt dieses Exil für eine nächste Eroberung; mit Akashi zeugt er eine Tochter, die später Kaiserin wird. Die familiären Bande am Hof sind eng und für den Leser nicht immer ganz einfach zu durchschauen; sie haben aus heutiger Sicht zuweilen eine leicht inzestuöse Anmutung.

Vielleicht ist Genjis grösstes Talent die Einfühlung, und die Erzeugung von Intimität; darum wohl bleiben ihm viele seiner Frauen auch nach der ersten leidenschaftlichen Phase der Beziehung ergeben – nicht zu unterschätzen ist allerdings auch die materielle Abhängigkeit dieser Frauen von ihrem Beschützer. Es zählt zu den Stärken des Romans, dass er den herrlichen Genji (in seltenen Moment) kopf- und hilflos oder unsympathisch zeigt, und dass es ihm nicht ganz immer gelingt, die Objekte seiner Begierde mit seinem Charme zu erobern. Es kann dann schon vorkommen, dass er die feinen Manieren ablegt und die Schranken, die in vielen Spielarten (Trennwände, Vorhänge, Läden, Kommunikation über Bedienstete) Mann und Frau trennen, mit Gewalt aus dem Weg räumt.

Viele Kapitel lang steht die stürmische Karriere Genjis im Zentrum. Mit fortschreitendem Alter werden die Passionen etwas schwächer, Genji reflektiert jetzt eher melancholisch sein Leben, und er  macht zunehmend anderen Figuren Platz. Auch diese Phasenwechsel inszeniert der Roman gekonnt. Es gibt schon etliche Längen – kaum verwunderlich bei 1’200 Seiten -, aber der Roman nimmt doch immer wieder gefangen mit intensiven Schilderungen der Gefühlswelt der Protagonisten.

Diese Ausgabe unternimmt vieles, um den in mancherlei Hinsicht nicht mehr ganz einfach zugänglichen Roman zu erschliessen. Tausende Fussnoten erläutern den Haupttext. Zu Beginn jeden Kapitels werden die wichtigsten handelnden Personen aufgeführt; allerdings operiert der Roman im Text mit den jeweils wechselnden (Amts-) Titeln der Figuren, statt mit Eigennamen (wie das etwa die deutschsprachige Ausgabe Benls macht). Diese Treue zum Original bezahlt man mit einer die Lektüre erschwerenden Unübersichtlichkeit. Zahlreiche Illustrationen lockern den Text auf.

 

 

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