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Besprechung für Nagasaki, ca. 1642
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Besprechung:
Es ist eine äusserst fremde Welt, in die der junge Holländer Dolmetscher Abel Rheenen hineingesogen wird, als er mit dem Handelsschiff Middelburg in Deshima landet, einer künstlichen angelegten Insel vor Nagasaki, der einzige Ort in Japan, wo es den Holländern, als einzigen Europäern, Mitte des 17. Jahrhunderts erlaubt war, mit Japan Handel zu treiben.
Der ältere Inspektor Keijiro Seki fasziniert Abel, einen Luftibus, der sich durch Sprachtalent und Neugier auszeichnet, aber nicht weiss, wo er hingehört, und von den anderen Schiffsleuten nicht so recht geachtet wird. Abel will von Kejiro lernen, wie man so stehen kann, wie das der quasi pensionierte Samurai kann – tief verwurzelt, unanfechtbar. Widerwillig akzeptiert Keijiro Abel als Schüler, seinerseits angezogen von der Exotik des blonden Jünglings. Der Samurai verfolgt einen geheimen Plan, den Abel mit der Zeit entdeckt: er will den Tod seines Meisters Yuudai rächen, der von einer von einem holländischen Schiff stammenden Kanone vor 42 Jahren zerfetzt worden war – ein Unfall. Dieses Schiff gehörte Abels Grossvater, und Abel versteht, dass Keijiro ihn töten muss. Auf einer Art Pilgerreise der beiden, begleitet vom unerlösten Geist Yuudais, kommt das offen zur Sprache. Abel fragt Keijiro, ob solcherart Rache zu üben Sitte seines Landes ist, oder ob Keijiro „alleine verrückt“ sei.
Die Autorin inszeniert solche Dialoge mit Sorgfalt und hintergründigem Witz, der mit den Missverständnissen spielt, die sich aus dem Dialog eines des Japanischen nur halbwegs mächtigen Holländers mit einem Samuraikrieger ergeben. Im Kern aber verstehen sich die beiden, ja sie mögen und lieben sich, schliesslich in einer sexuellen Beziehung, wie das für Samurai und Schüler in Japan üblich war. Am Ende lässt Keijiro Abel die Wahl, in seine Welt zurückzukehren, oder aber Keijiros Racheopfer zu werden. Abel entscheidet sich für den Tod durch Keijiros Schwert; von aussen mutet es an, als sei er einem Wahn erlegen. Abel folgt der verrückten Logik Keijiros, in dessen Welt allerdings der Tod auch nur eine Passage ist. Er erlöst damit Keijiros Meister Yuudai, der, endlich gerächt. ein neues Leben beginnen kann.
Die Welt der Handelsschiffe und die Welt der Samurai sind beides Welten, in denen Frauen eine marginale Rolle spielen, am ehesten noch treten sie als Huren auf. Keijiro ist zwar verheiratet, aber am wichtigsten in der Familie scheint sein Schwiegervater zu sein, und sein Enkel. Eine Männerwelt. Keijiro Seki pflegt zu Beginn der Novelle den Müssiggang in seinem Zuhause, er gilt als „faulster Mann der Welt“. Aber er hat noch eine Rechnung offen, und als das holländische Schiff in Deshima landet, macht er sich auf, die Rechnung zu begleichen.
Als Leser verharrt man gern in den Anfangskapiteln, lauscht den andeutungsreichen Sätzen nach. Mit den Begegnungen von Keijiro und Abel gewinnt die Erzählung allmählich an Fahrt, aber mit gutem Timing und nie nachlassender sprachlicher Sorgfalt schafft es die Autorin, die Leser auf diese Fahrt mitzunehmen, deren Ende nicht absehbar ist und dann doch den Leser etwas befremdet und ratlos zurücklässt. Sucht Abel, der in seiner westlichen Welt wenig verankert scheint, den Tod? Hat Keijiro das so gewollt? Indem die Autorin den Geist Yuudais in aller Selbstverständlichkeit auftreten lässt, und er am Ende tatsächlich erlöst wird, übernimmt sie (und dann auch Abel) die Perspektive Keijiro Sekis.
((Die vier Prinzipien… Distanz, Takt, Verbindung, magischer Augenblick: verbürgte Samurai-Prinzipien? Wendet Wunnicke sie auf die Prosa in dieser Novelle an?))
„Abel will von Kejiro lernen, wie man so stehen kann, wie das der quasi pensionierte Samurai kann – tief verwurzelt, unanfechtbar.“
Der Luftibus ist sich bewusst, dass er zur Ruhe kommen muss, um sich selbst bewusst zu werden, wo er hingehört.
„…er will den Tod seines Meisters Yuudai rächen, der von einer von einem holländischen Schiff stammenden Kanone vor 42 Jahren zerfetzt worden war – ein Unfall.“
Warum kann Keijiro Yuudai nicht gehen lassen? Es ist ihm doch auch klar, dass es ein Unfall war, Ungeschicklichkeit seines Meisters – und Geliebten – dass Abel sicher nichts dafür kann, nicht einmal die Kanone kann etwas dafür!
Ist es an Keijiro, Yuudai gehen zu lassen? Am Ende wird aus Erzählerinnen-Perspektive geschildert: „Yuudai, befreit, ging über die Brücke.“ (p. 109). Das scheint nicht Keijiros Phantasie zu sein. Yuudai steht dem Unterfangen Keijiros durchaus skeptisch gegenüber, aber am Ende bringt der Mord an Abel die erwünschte Wirkung, die einzige mögliche Art der Rache, so befremdend das ist.
Ich denke schon, dass Keijiro’s Rache Yuudai davon abhält, in die ‚andere‘ Welt überzugehen. Es gibt den Moment bei der heissen Quelle, wo Yuudai sich so schön leer fühlt (S. 94) – ich verstehe es dort so, dass er meint, Keijiro gäbe seinen Racheplan für die Liebe zu Abel auf! Aber da dem nicht so ist, muss Yuudai weiterhin bleiben…
Ich bin nochmals über die von Dir zitierte Stelle auf Seite 49 gestolpert: Yuudais Meister sucht zu verhindern, dass „die Todesgötter“ den Racheschwur von Keijiro zu hören bekommen. Vergeblich; Indiz dafür, dass alles weitere nicht mehr in den Händen der Menschen liegt, ob tot oder lebendig.
„Am Ende lässt Keijiro Abel die Wahl, in seine Welt zurückzukehren, oder aber Keijiros Racheopfer zu werden. Abel entscheidet sich für den Tod durch Keijiros Schwert; von aussen mutet es an, als sei er einem Wahn erlegen. Abel folgt der verrückten Logik Keijiros, in dessen Welt allerdings der Tod auch nur eine Passage ist. Er erlöst damit Keijiros Meister Yuudai, der, endlich gerächt. ein neues Leben beginnen kann.“
Ich habe diese Stelle anders wahrgenommen (Seite 104): „Der Dolmetsch lief fort. Er wusste, was er wollte. Und nun wusste er auch, was Wollen bedeutet“.
Ich bin der Meinung, dass er nicht die richtigen Schlüsse daraus gezogen und die Konsequenzen bedacht hat. Ich denke, er wollte zu seinem Geliebten zurück, der ihm auch mal angeboten hatte, ihn unter seine Fittiche zu nehmen (und ihm eine Frau zu suchen).
Mindestens nimmt Abel den Tod als Option in Kauf, es muss ihm, genauso wie Keijiro, klar gewesen sein, dass er sich nicht gegen Wachen und Soldaten in Überzahl durchsetzen kann. Und Abel wird auch ahnen, dass Keijiro den Rachegedanken nicht aufgegeben hat, nur wartet, bis Distanz, Takt, Verbindung und der magische Augenblick da ist. Indem Abel den Tod in Kauf nimmt, schafft er eine grosse Nähe zu Keijiro. Gut möglich, dass Abel ihn als Geist begleitet in Zukunft. Alles in der wahnwitzigen Logik Keijiros.
Der Gedanke ist mir noch nicht gekommen, dass Abel anstelle von Yuudai Keijiro als Geist in Zukunft begleiten könnte. Das ist eine fast tröstliche Idee.
((Die vier Prinzipien… Distanz, Takt, Verbindung, magischer Augenblick: verbürgte Samurai-Prinzipien? Wendet Wunnicke sie auf die Prosa in dieser Novelle an?))
Definitiv! Siehe dazu auch meine Besprechung!