„Joseph in Ägypten“
In der Bibel heisst es über Josephs Zeit in Potiphars Haus: «Und der HERR war mit Josef, sodass er ein Mann wurde, dem alles glückte.» Moses 1, 39, 2
Wir sehen, wie Joseph aufsteigt in der Gunst seiner Vorgesetzten, und in seinen Ämtern. Der sterbende Meier Mont-kaw bestimmt Joseph zu seinem Nachfolger; er hat jetzt eine für den Hof Potiphars auch wirtschaftlich entscheidende Stellung inne. Alles gelingt über die Massen, er ist beliebt und trifft gute Entscheidungen. Kaum mehr wird uns ein Blick in Josephs Innenleben gegönnt. Es gibt da – anders als früher – wenig zu berichten. Er ist ein Mann mit einer göttlichen Mission. Jeder Satz dient zur Vertiefung der Idylle, die fein säuberlich ausgemalten Garten- oder Speisesaal-Szenen sind statische Tableaus, ohne grosse Dynamik oder Richtungsänderung: Joseph wird zusehends zum Ägypter, und zu einen sehr erfolgreichen dazu.
Aber Joseph ist und bleibt ein Fremder. Er dient einem anderen Gott; und das gibt dem einzigen Feind und Neider Josephs am Hofe, dem Zwerg Dudu, schliesslich den Ansatzpunkt für eine Intrige. Die ist – da zunächst erfolglos – nur ein die Idylle noch stärker hervorhebender Seitenzweig der Handlung. Aber Dudu vermag die Aufmerksamkeit Muts, der Gattin des kastrierten Herrn Potiphar, auf Joseph zu lenken. Von da an ist „Joseph in Ägypten“ im Wesentlichen die Geschichte einer (einseitigen) Liebe, in allen Stufen von der Ignoranz, über das Kennenlernen und den Flirt bis hin zur wahnwitzigen Obsession. Mut ist dieser Leidenschaft, die sie auch körperlich verändert, hoffnungslos ausgeliefert. Der geschmeichelte Joseph verpasst es, sich entschieden von Mut zu distanzieren. Er unterschätzt die Gefahr, die nochmals grösser wird, als Mut ihre Liebe und Frustration nicht länger verbirgt und alles auf eine Karte setzt. Als auch ein Zaubertrank-Vodoo nicht ganz zum Ziel führt, da eskaliert die liebes-wahnsinnige Gattin des Herrn die Situation und klagt Joseph der versuchten Vergewaltigung an. Sturz des Emporkömmlings.
Viele herrlich inszenierte Dialogszenen mit Anleihen aus Wagners Opern, wie der Kommentarband nachweist. Thomas Mann zieht uralte, nicht nur biblische, Quellen herbei, etwa wenn „die Damengesellschaft“ kollektiv einem Taumel verfällt, als Mut den schönen Joseph den Wein ausschenken lässt und perfiderweise besonders scharfe Messer zum Obstschneiden bereitstellt. Das Resultat ist ein (Finger-) Blutbad. Die Szene findet sich beispielsweise auch im Koran.
Zugleich verarbeitet Mann zeitgenössische Ereignisse; die Demagogie und der Antisemitismus der Nazis wird in der Kampagne des Zwergs Dudu und der Anklagerede Muts gegen Joseph reflektiert.
Zum Ereignis macht „Joseph in Ägypten“ (noch stärker als die Bände davor) aber die äussert souveräne (durchaus auch im Sinne von eigenwillige) Handhabung der Sprache. Dieses umständliche, in langen Perioden und Gedankengängen, manchmal zeremoniell daherkommende Deutsch mutet – heute natürlich noch mehr als vor 90 Jahren – fremd an; aber es übt eine grosse Faszination aus, wie der Autor es versteht, Gefühlsregungen bis in alle Verästelungen Ausdruck zu geben.