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Besprechung für Das Lied der Zelle

Moritz T. Keine Kommentare
Besprechung:

 

«Das Lied der Zelle» ist didaktisch geschickt aufgebaut. Der Leser erfährt in einem leicht zugänglichen ersten Teil wie die Zellen – im 17. Jahrhundert – entdeckt wurden, und wie die Forschung über die Jahrhunderte langsam ein Verständnis für die fundamentale Rolle dieses Grundbausteins aller Lebewesen entwickelte.

Dann aber stürzt der Autor den Leser mitten hinein in die wissenschaftlichen Debatten und Entdeckungen der Zellfunktionen. Mukherjee mutet dem Leser einiges zu, er lernt das endoplasmatische Retikulum kennen oder den Golgi-Apparat. Die einzelnen Zell-Elemente und ihr Zusammenwirken werden jedoch anschaulich erklärt; es wird auf verständliche Weise nachgezeichnet, wie die Forschung sich die Erkenntnisse zunutze macht, um in die Prozesse einzugreifen, bis hin zur In-Vitro-Fertilisation oder dem Gene Editing.

Im richtigen Moment wird dann der Fokus erweitert: jetzt geht es um das Zusammenwirken der Zellen, um ihre Organisation in Organen und ihre Spezialisierungen  – es gibt mehr als 200 verschiedene Zelltypen im menschlichen Körper.  Die Flexibilität der Zellen ist überwältigend, und es wird etwas unübersichtlich: Blutplättchen sind auch Zellen, aber ohne Zellkern. Wie ist die Zelle definiert? Wo sind die Grenzen ihrer Wandelbarkeit? Mukherjee ist aber nicht so sehr an fundamentalbiologischen Fragen interessiert, sondern an medizinischen – wie es der Untertitel ja auch deutlich macht.

Der grosse Held des historischen Teils des Buches heisst Rudolf Virchow. Eine seiner Maximen: Wenn ein Mensch erkrankt, dann spiegelt sich das in seinen Zellen.  Mukherjee nimmt unter dieser Perspektive verschiedene Krankheiten in den Blick, die die Medizingeschichte des letzten Jahrhunderts dominiert haben: Diabetes, Aids, verschiedene Krebsformen, Herzinfarkte, oder die Corona-Pandemie. Er erzählt von seinen Patienten, von exzentrischen Forschungskollegen, oder von sich selbst: Mukherjee erkrankte 2017 an einer schweren Depression – auch hier interessiert ihn vornehmlich das Geschehen auf Zellebene.  Wir erfahren von den spektakulären Erkenntnissen in der Krebsforschung (Mukherjee ist Onkologe), wir lernen Segen und Tücken des Immunsystems kennen, die Hormonproduktion, oder das gewaltige Potential der Stammzellen. Immer wieder aber zeigt sich, dass ein Durchbruch in der Forschung nicht zwingend einen Durchbruch in der klinischen Anwendung zur Folge hat. Die Patienten reagieren sehr unterschiedlich auf Medikamente oder Eingriffe, und wir wissen meist nicht, warum. Vielleicht unterscheidet sich die Zell-Landschaft von Mensch zu Mensch, und für erfolgreiche Eingriffe müssten wir erst die spezifische Landschaft erfassen?

Mukherjee schliesst das Buch in bemerkenswerter, unaufgelöster Ambivalenz: Man spürt den Stolz auf die Fortschritte der Forschung und auf die spektakulären Aussichten (Stammzellen, Gene editing), ganz in Richtung auf den «Neuen Menschen» im Untertitel; aber er beendet das Buch auch auf einer demütig-philosophischen Note: wir wissen schon einiges über die Zellfunktionen (längst nicht alles!), aber wie die Zellen im Verbund agieren, was ihr eigentliches Wesen ausmacht, das bleibt uns verborgen – noch kennen wir nicht «das Lied der Zelle».

 

 

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