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Besprechung für Grenzfahrt

Moritz T. Keine Kommentare
Besprechung:

 

Der Roman spielt in einer entlegenen Flusslandschaft im Osten Polens, in die die Nazi-Deutschen eingefallen sind. Die Dorfbewohner arrangieren sich irgendwie mit den Besatzern. Der Krieg macht Pause. Die Deutschen bereiten das «Unternehmen Barbarossa» vor: den Angriff auf die Sowjetunion. Die Russen stehen an der anderen Seite des Flusses und sind wachsam. Das Überqueren des Flusses Bug ist doppelt riskant.  Der Fährmann Lubko pendelt zwischen den Welten. Er führt in klandestinen Fahrten Flüchtlinge oder Partisanen von der einen auf die andere Seite.

Die polnischen Partisanen hängen in der Luft. Was ist denn ihre Mission, aufgerieben zwischen zwei Weltmächten? Sie beobachten von weitem die deutschen Truppen, aber ohne klaren Plan. Sie – teilweise fast noch Kinder – spielen gewissermassen Krieg.

Ein junges jüdisches Geschwisterpaar ist auf der Flucht vor den Nazis und versucht den Fluss zu  überqueren; es erträumt sich eine bessere Welt im fernen Osten des Sowjetreiches. Marysia, selbst eine Aussenseiterin im Dorf, gewährt ihnen Schutz; sie heilt das Mädchen und verführt den Jungen. Sie ist in dieser Landschaft verwurzelt, bewegt sich barfuss durch die Wälder, und sammelt Heilkräuter. Sie ist das Gravitationszentrum des Romans; im Chaos des Kriegs bewahrt sie die Ruhe und behält den moralischen Kompass bei. Sie hatte den Fährmann Lubko bei sich aufgenommen. Auch die Partisanen suchen Zuflucht bei ihr.

Der Ich-Erzähler blickt zurück auf diese Zeit im 2. Weltkrieg; gern möchte er von seinem Vater genauer wissen, wie jener diese Zeit erlebt hat. Aber der Vater, für den der Krieg ein einschneidendes Erlebnis geblieben war, erinnert sich jetzt kaum mehr daran, und auch an sonst nicht viel. Er ist dement. Der Ich-Erzähler ruft sich Dialoge zwischen Vater, Grossvater und Onkel in Erinnerung, und – ein Stadtkind – die Ferien-Erlebnisse in dieser ruralen, ursprünglichen Umgebung. Er begibt sich auf Spurensuche, jetzt aber durch ein modernes Polen, in veränderter Landschaft, mit Rapsfeldern bis zum Horizont.

Es ist ein Qualitätsmerkmal von «Grenzfahrt», wie der Plot organisch aus der Erzählung hervorgeht und für den Gesamteindruck eine untergeordnete Rolle spielt. Stasiuk versteht es durchaus, die Handlungsfäden auf professionelle Art zu einem Spannungsbogen zu verknüpfen, der schön traditionell im vorletzten Kapitel in einer Serie von Gewaltakten kulminiert.

Aber den Leser beschäftigen nach der Lektüre andere Dinge. Stasiuk beschreibt die Flusslandschaft ungemein anschaulich, mit ihren Gerüchen und Geräuschen, Farben und Formen. Der Krieg hinterlässt Spuren bei den Menschen und in der Landschaft. Mehrfach werden die tiefen Rillen beschrieben, die die deutschen Panzer hinterlassen. Auch die Psyche der Menschen ist gezeichnet. Die Verlorenheit des jüdischen Geschwisterpaars auf der Flucht ist bodenlos. Sie haben keinen anderen Ort mehr als die Phantasie. Die Verrohung des Krieges erfasst auch die polnischen Partisanen; Langeweile, Ziellosigkeit, Lust an der Gewalt lassen einen Streit eskalieren. – Es sind die animalischen Instinkte, die im Wahnsinn des Krieges Orientierung bieten.

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