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Besprechung für Erinnerungen an ferne Berge

Moritz T. Keine Kommentare
Besprechung:

Man wird nicht müde, mit Orhan Pamuk aufs Meer zu schauen: er malt in immer neuen Variationen die Wellen, darauf findet sich ein Boot, und im Hintergrund Hügel. Darüber oder darunter, daneben oder mittendrin: Worte, Sätze, Text. «Einst waren Worte und Bilder eins»: In diesem Skizzenbuch bilden sie ein ästhetisches Ganzes von unvergleichlichem Reiz. Der Text ist Teil der Landschaft, die Landschaft ist Teil des Textes – Pamuk bringt hier seine beiden Talente zusammen. Er nennt William Blake als Vorbild für dieses Zusammenspiel; mehrfach weist er auch auf die traditionelle chinesische Malerei hin, die Landschaften mit kalligraphischen Texten verbindet.
In der Mitte einer Buch-Doppelseite ist jeweils eine Reproduktion einer Moleskine-Skizzenbuch-Doppelseite zu sehen, mit dem türkischen Text in Pamuks gut lesbarer Handschrift. Darum herum sind die deutschen Übersetzungen angeordnet, mehr oder weniger in Relation zum Ort der Textteile im Manuskript. Ein sehr schön gestaltetes Buch.
Es zeigt eine Auswahl von Tagebuch-Blättern aus dem Zeitraum 2009 – 2021, folgt aber keiner chronologischen, sondern eher einer geographischen Ordnung. Auf den ersten rund 140 Seiten befinden wir uns zumeist in Istanbul, und wir sehen zumeist: Landschaft mit Meer und Boot. Dann folgen Impressionen von Reisen, wunderbar die Bilder, die dem Leser Goa sehr nahe bringen; New York ist ein anderer Fixpunkt, aber Pamuk bereist auch Griechenland, Ägypten, Frankreich oder Italien. Die Texte drehen sich ums Tagesgeschehen, der Autor geht zum Schwimmen, zum Essen, er tauscht sich aus mit seiner Partnerin (erst Kiran; später Asli), er verfolgt die Nachrichten, er schreibt. Wir erleben den arabischen Frühling 2011 mit Pamuk, und die sich verdüsternde innenpolitische Lage in der Türkei; schliesslich muss Pamuk einen Personenschätzer engagieren, er wird bedroht. Häufig notiert sich Pamuk Gedanken zum Roman, den er aktuell schreibt, oft ist er euphorisch, seltener zweifelt er am Fortkommen. Natürlich ist es ein Gewinn für den Leser, wenn er sich im Werk Pamuks auskennt. Voraussetzung für die Lektüre ist es nicht.

Pamuk beschäftigt sich nicht nur mit dem Tagesgeschehen oder seinen Schreibprojekten (manchmal kreuzen sich diese Ebenen – die Corona-Pandemie und die Publikation von «Die Nächte der Pest» fallen beide in das Jahr 2021). Er stellt auch Überlegungen zu Kunst und Literatur an, oder er macht sich Gedanken zur Bedeutung der Landschaft für den Menschen. Die Sätze kommen ohne grossen Anspruch daher, sie wirken spontan hingeworfen, verraten aber die kontinuierliche, kritische Auseinandersetzung mit Gegenwart und Vergangenheit. Die Lockerheit verleiht den Notizen einen eigenen Charme, man folgt den Ausführungen gern und gerät ins Nachdenken.

Als (west-) europäischer Leser ordnet man Pamuk unwillkürlich im eigenen Kulturraum ein. Die Orientierungspunkte sind vertraut: Montaigne, Rousseau, Tolstoi, Thoreau, Joseph Conrad, die Impressionisten, van Gogh, oder Mozart. Dazu trägt auch bei, dass sich Pamuk dezidiert absetzt von der konservativen, religiös orientierten Politik in der Türkei. Dabei ist Pamuk im nur halb europäischen, muslimisch geprägten Istanbul so tief verwurzelt wie selten ein Autor an seinem Herkunftsort. Einen Einblick in sein Inneres gibt eine Notiz am Rande während einer Reise durch Frankreich, wo er die Einsamkeit beklagt, «Türke zu sein».

Die prächtige Verbindung von Wort und Bild in diesem Buch ist ungemein attraktiv. Kaum hat man die Lektüre beendet, kehrt man zu einzelnen Bildern zurück. Und hofft heimlich auf eine Fortsetzung aus dem reichen Skizzen-Fundus des Schriftsteller-Malers.

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