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Besprechung für Grenzfahrt

Daniel 1 Kommentar
Besprechung:

Grenzfahrt

Grenzfahrt ist vordergründig eine Reise an den Fluss «Bug», an der Grenze zwischen Polen und Russland, kurz vor dem Einmarsch der deutschen Armee in Russland im zweiten Weltkrieg. Diese Reise führt Andrzej Stasiuk auf zwei Ebenen: In der Vergangenheit im Juni 1941 und in aktuellen Erinnerungsreisen des Sohnes und Enkel der Protagonisten.

In starken Bildern wird das Vakuum, die Anarchie und Orientierungslosigkeit dieser Situation der Menschen erzählt, die zum Kollateralschaden des Krieges und der Kriegsparteien werden. Die polnische Bevölkerung ist bereits geschlagen. Sie sind Verlierer und Opfer und werden es erneut. Ein nicht endendes Trauma scheint in Gang zu sein. In krassem Gegensatz dazu steht der durchorganisierte deutsche Aufmarsch und Auftritt.

Seite 19: Von Hruszowa her hörten sie ein Dröhnen. Ein tiefes, schweres Grollen aus dem Westen. Es war wie ein aufziehendes Gewitter, aber es glitt direkt über die Erde und liess sie erbeben… Hier hatte noch nie jemand so etwas gehört.

Dann erscheinen die Kolonnen der Motorräder, Transporter, Lastwagen, Panzer – eine endlose, todbringende Metallschlange. Dies beobachtet hinter hohem Gras versteckt, eine zersplitterte Truppe, vielleicht ehemalige polnische Soldaten, vielleicht aber auch eine selbsternannte Widerstandsgruppe, eher Kinder als Soldaten (Die Truppe ist einer der vier Haupterzählstränge, die immer wieder ineinanderfliessen werden).

Von diesem Schauplatz der Kriegsvorbereitung, vom Quartier der deutschen Soldaten, von der Kriegsvorbereitung überhaupt erfahren wir nur aus der Aussensicht der Protagonisten. Sie alle stecken zwischen den Fronten. In einer Zwischenwelt, in der bereits das ganze Grauen präsent ist.

Ob es der Fährmann ist, der Flüchtlinge in der Nacht über den Fluss führt, oder das jüdische Geschwisterpaar, das auf der Flucht ist, oder die polnische Truppe, die von einem brutalen Zugführer geführt wird und ihre Gräueltaten vollbringt, oder auch die Zigeunerin, die fast unbeteiligt in sich ruht – überall lauert der Abgrund, ist das Abgründige spürbar.

Seite 172: Wenn Krieg ist, redet man über nichts anderes. Selbst wenn er zu Ende geht, erinnert man sich immer wieder daran. Es gibt nichts Wichtigeres im Leben als den Krieg.

Stasiuk erzählt im Nebensächlichen oft viel treffender von der grauenhaften Dimension des Krieges, als in den offensichtlichen Szenen von Gemetzel, aufgeschlitzten Körpern (Schweine und Menschen), oder Folter. Zum Beispiel in der Szene, wo einer der Truppe sich einen dunkelgrünen, gestreiften Pyjama aus Seide aneignet. Auf dem Dorfmarkt von der barfüssigen Zigeunerin zum Verkauf angeboten. Ein Kleidungsstück von einem hingerichteten Opfer, keine Frage, aus einem der nahen Konzentrationslager. Ein Pyjama, der einmal in einem normalen Alltag auf nackter Haut getragen wurde. Ein Pyjama sinnbildlich für Viele, Tausende, Millionen, einem endlosen Berg von Pyjamas. Solche Bilder hervorzurufen, gelingt dem Autor immer wieder.

In diesem Setting wird die Lektüre von «Grenzfahrt» vielmehr zu einer Grenzfahrt auf dem schmalen Grat zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, Macht und Ohnmacht, Willkür und Menschlichkeit, Chaos und Ordnung. Die Absurdität ist manchmal kaum zu ertragen, das heisst der Blick von diesem Grat in die Tiefe ist erschreckend. Andrzej Stasiuk führt damit auch an die eigenen inneren Grenzen der LeserInnen. Grenzen zwischen Leicht und Schwer, Kindheit und Erwachsenenalter, Tod und Leben, innerer Gespaltenheit, Stille und Lärm, Angst und Hoffnung. Doch die Luft ist dünn und das Atmen wird hier schwer. Die Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht, kurz – die dunkle Seite gewinnt und selbst der Fährmann ist kein Erlöser, sondern bringt seine Fahrgäste nur von einem Übel ins andere.

In den Erinnerungsreisen versucht der Sohn die Aufarbeitung und Auflösung. Doch auch hier überwiegt das Schwere. Krieg ist und bleibt immer unvorstellbar und ist doch möglich. Diese Absurdität ist stets präsent.

Seite 84: Er hatte Angst sich zu bewegen, um nicht die Stille zu stören, die den ganzen Raum zu erfüllen schien, den er sich vorstellen konnte… «Vielleicht sind alle tot, und es ist endlich Ruhe?», dachte er…

So war es für den jungen Flüchtling nicht, doch am Ende des Buches angelangt, kam mir der Gedanke schon – jetzt ist endlich Ruhe.

 

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Moritz T.

„bringt seine Fahrgäste nur von einem Übel ins andere“: Treffende, schöne Beobachtung: Die Romanfiguren projizieren immer wieder Erwartungen auf die andere Flussseite, der Fährmann wird zum Hoffnungsträger. Aber selbst wenn eine Überfahrt gelingt, verheisst das keine Erlösung: der Krieg kontaminiert die ganze Flusslandschaft. Er ist auswegslos.

Last edited 8 months ago by Moritz T.

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