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Besprechung für Nostromo

Moritz T. Keine Kommentare
Besprechung:

Der Roman spielt in einem fiktiven südamerikanischen Land Costaguana, und vor allem in Sulaco, einer etwas abseits gelegenen pazifischen Hafenstadt, die Joseph Conrad mit beträchtlichem Aufwand beschreibt.

Eine europäisch geprägte Elite rund um den Silberminen-Besitzer Charles Gould beherrscht Sulaco. Costaguana wird seit jeher von Revolutionen und Unruhen heimgesucht, und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Gefüge in Gefahr gerät. Der Gould & Co gewogene Präsident Ribiera wird in der Hauptstadt gestürzt, und die Aufständischen haben es natürlich bald auf die Silbermine San Tomé abgesehen. Das ist der Hintergrund, vor dem diese Kolonial-Geschichte spielt, in der Europäer dominieren und ein US-Amerikaner als Investor auftritt. Die Einheimischen bewegen sich im Hintergrund. Ein wenig wie ein Einheimischer wirkt der Titelheld Nostromo, der trotz Heldentaten – für seinen Geschmack – zu wenig Wertschätzung von der Elite erfährt. Er stammt aus Italien, bewegt sich aber mit grosser Selbstverständlichkeit in Costaguana, mit Land und Leuten verbunden.

Conrad mischt in «Nostromo» alle Ingredienzen zu einem Abenteuer-Roman, exotisches Setting, Liebesgeschichten, heldenhafte Figuren, Tumult und Revolution. Wenn man den Plot nachzeichnet, folgt auch der einigermassen den Konventionen, mit sich zusammenbrauenden Unruhen, Umsturzversuch, Flucht, Kampf, und Sieg (wenn auch ohne happy end).

Und dennoch unterläuft der Autor die Erwartungen und frustriert den action-hungrigen Leser. Conrad verharrt gern in den Momenten dazwischen. Ein Beispiel: die aufständischen Truppen erobern Sulaco, aber es gibt eine Phase, wo die alte Elite noch da ist, und sich die neuen Machthaber noch nicht richtig eingerichtet haben. Es entsteht eine Art Vakuum, in dem der Leser langen Gesprächen folgt und Psychogramme zur Kenntnis nimmt. Wie entscheidet sich der Kampf? Wie bewegen sich die Truppen? Der Leser weiss es über viele Seiten nicht, genauso wenig wie die Protagonisten.

Ein heimliches Hauptthema von «Nostromo» ist der Wahnsinn, dem beispielsweise der Journalist Martin Decoud erliegt: Der Umsturzversuch führt den Intellektuellen zusammen mit Gian’ Battista Fidanza (=Nostromo), einem Mann der Tat. Die beiden sollen das Silber aus der Mine San Tomé vor den anrückenden aufständischen Truppen retten. In einem der brillantesten Kapitel finden wir die beiden auf einem Boot im Golf vor Sulaco, in stockdunkler Nacht, mit einem unberechenbaren blinden Passagier, der aus purer Angst dem Wahnsinn verfallen ist. Sie müssen sich vollkommen still verhalten, um nicht die Aufmerksamkeit der Aufständischen auf sich zu ziehen, die mit einem Schiff Richtung Sulaco unterwegs sind. – Es gelingt Nostromo und Decoud, den Schatz auf einer Insel zu verbergen. Decoud, der Skeptiker, kann die umfassende, quasi übernatürliche Einsamkeit auf der Schatz-Insel nicht ertragen und begeht Selbstmord.

Im Zentrum des Romans steht das Silber. Es bringt die Eisenbahn nach Sulaco. Es ist eines der wichtigsten Ziele der Aufständischen. Dann ist es die Basis für die Gründung des separaten Staates. Das Silber übt eine magnetische und verheerende Anziehungskraft auf diverse Romanfiguren aus. Nostromo beschliesst, den auf der Insel versteckten Silberschatz heimlich in Geld umzumünzen. Das wird ihm, in Zusammenspiel mit einer bei ihm überraschenden Liebesverstrickung, zum Verhängnis. – Aber auch Sotillo, Anführer der Aufständischen, kann sich dem Bann des Silbers nicht entziehen und verbeisst sich in eine irrationale Suchaktion.

Eine Figur lässt sich durch das Silber nicht korrumpieren, und sie wird im Roman durchwegs positiv gezeichnet: Emily Gould, die ihrem Mann nach Costaguana und zur Silbermine gefolgt ist, als jener die Konzession von seinem Vater erbt. Mrs Gould ist ihrem Mann ergeben, aber zugleich frustriert: Der schweigsame Charles Gould konzentriert sich zunehmend auf die Silbermine. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit und Fürsorge auf eine ganze Anzahl Personen, vor allem aber auf die heranwachsenden Töchter Violas, eines Italieners, der einst mit Garibaldi für die Einigkeit und Freiheit Italiens kämpfte.

«Nostromo» ist ein Buch von grosser Intensität, mit wechselnden Perspektiven und ungewohntem Rhythmus – das ist eine Herausforderung für den Leser, der jederzeit gern die Übersicht über das Geschehen hat. Aber er wird reich belohnt: Bezaubernd beispielsweise, wie der lange Dialog Martin Decouds mit seiner Geliebten Antonia mitten in den politischen Turbulenzen Intimität evoziert. Erschütternd, wie Descoud dann seine Identität und sein Leben in der überwältigenden Einsamkeit der Schatz-Insel im Golf verliert. Zu den Höhepunkten zählen auch die Beschreibung dieses Golfs vor Sulaco zu Beginn des Romans, sowie die phantastische nächtliche Bootsfahrt von Nostromo und Decoud durch den Golf. Die Portraits der Hauptfiguren ist von grosser Tiefenschärfe. Der Roman verhandelt in vielen Facetten die zeitlos aktuelle Frage, was das Geld mit den Menschen macht.

 

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