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Besprechung für Alles fliesst

Andreas S. 1 Kommentar
Besprechung:

Wassili Semionowitsch Grossman (1905-1964) jüdisch russischer Schriftsteller wechselt von Linientreue zur Kritik eines Systems, das keine Kritiker duldet. So wird er Ende seines Lebens als Regimekritiker überwacht und gecancelt.

Das Buch erzählt die Geschichte der Rückkehr von Iwan G.  nach 30 Jahren im Gulag zu Orten seines früheren Lebens und der Auseinandersetzung mit einer neu geformten Gesellschaft, die sich von derjenigen im Gulag oftmals wenig unterscheidet.

Geschrieben in den Jahren 1955-63, sein letztes Werk, wird es 1989 in der Zeitschrift Oktober (selbsterklärtes russisches unabhängiges Presseorgan) veröffentlicht, wohl nicht ganz unzufällig zur Zeit von Gorbatschows Perestroika und Glasnost (Umgestaltung und Offenheit). Das provokative Echo ist gross.

Die Handlung reflektiert die Geschichte des russischen Volkes im 20. Jahrhundert. Die Mechanismen des Ausbruchs aus einer autoritären Gesellschaft, Revolution, Epochenbruch, Krieg, die Etablierung einer neuen Gesellschaftsform durch Lenin und Stalin, die Rückkehr zu Gewalt und Terror. Darin eingebunden die Hoffnung eines 1000 Jahre unterdrückten Volkes auf Freiheit, auf eigenständiges und unabhängiges Denken. Wie gelangt ein Volk, dass nur Unterdrückung erfahren hat zu Freiheit. Die Besonderheiten der russischen Seele aufgrund dieser ewigen Unfreiheit. Wie lernt man Freiheit, wie geht man damit um?

Zitat Nachwort Franziska Thun-Hohenstein: »Was für eine Rolle spielen Gehorsam, Verleumdung, Mechanismen von Glauben, Manipulierbarkeit, Unterwürfigkeit, individuelle Schuld?». Mit diesen Fragen gelangt er an uns alle.

Der Beschrieb der staatlich verschuldeten Hungersnot in der Ukraine, der Kornkammer Russlands, am Beispiel einer Kleinfamilie, in einem Dorf, das elendiglich verhungert, brennt sich ein, hinterlässt uns demütig.

Ein Buch, dass uns der russischen Seele ein grosses Stück näher bringt. Grossmans Fähigkeit dem Menschen für sein Handeln und Tun (nach seinen Erlebnissen an der Front, sowie den Judenverfolgungen unter Stalin) zu vergeben.

Erzählerisch brillant, packend. Mich fasziniert die Selbstverständlichkeit, mit der er das durch das System verursachte Elend der Menschen beschreibt, als wäre es das natürlichste auf der Welt. Was können und sind wir Menschen bereit auszuhalten? Als wäre der Preis nie zu hoch für eine Veränderung und eine Erklärung, die gibt es immer. Es zieht sich kein roter Faden als Handlung durch das Buch. Ein Aneinanderreihen verschiedener Episoden, autobiographisch, historisch, seine persönliche Einschätzung von Lenin und Stalin, eingebettet in die Geschichte der Rückkehr von Iwan G.

Der Titel passt, das Buch hängt sich in dein Bewusstsein und erzeugt eine therapeutische Wirkung. Jeden Tag bin ich dankbar, nicht in dieser Zeit gelebt zu haben.

Zitat Nachwort Franziska Thun-Hohenstein: «Grossmans Hohelied auf den Menschen gründet in der Überzeugung, es werde keinem Staat der Welt auf Dauer gelingen, dem Menschen, den ihm innewohnenden Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit zu nehmen.»

Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Alles fliesst, die Handlung hat an Aktualität nichts eingebüsst.

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Moritz T.

Das Buch scheint eine ganze Reihe von grundlegenden Fragen zu provozieren, «Wie lernt man Freiheit? Wie geht man damit um?» oder auch «Was vermag der Mensch zu ertragen?» – kein schlechtes Zeugnis für einen Roman, der dann auch noch exemplarisch die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts abhandelt.
Zweimal im 20. Jahrhundert gab es eine Chance, den autokratischen Bann in Russland zu brechen, im Februar 1917 und 1989/1991 ff. – beides Mal wurde die Chance vertan. Wenn man sich beispielsweise auch Svetlana Alexijewitschs «Secondhand-Time» vergegenwärtigt (Link: Secondhand-Zeit : Lesart blog ), mit ihren erschütternden sowjetisch-russischen Psychogrammen, muss man sich schon fragen, ob wir im Westen unterschätzen, wie tief verwurzelt anti-liberale Tendenzen in Russland sind.    

Last edited 7 months ago by Moritz T.

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