Besprechung für Alte Meister
Der Musikkritiker Reger ist ein Misanthrop. Nach dem Tod seiner Frau schliesst er sich für Tage in seiner Wohnung ein. «Ich dachte, ich will nicht mehr zu diesen Menschen zurück, zu diesen Menschen nicht und andere gibt es ja nicht, so Reger.» Es ist ein leiser, wehmütiger Satz in einem Buch voller lauter, wütend-schwungvoller Sätze, die die Menschen im Allgemeinen und die Österreicher im Besonderen beschimpfen, sie sind abgrundtief dumm, verlogen, nationalsozialistisch-katholisch – das alte Bernhard-Lied. Der «Welthasser» konstatiert, dass die Menschheit an einem Tiefpunkt angekommen ist, Politik, Justiz, die Lehrer alle korrupt und gefährlich, der «Staat» das grosse Feindbild.
Reger hat seine Refugien im Wiener Hotel Ambassador und im (erfundenen) Bordone-Saal des Kunsthistorischen Museums, wo er mehrfach pro Woche stundenlang auf der Bank sitzt, gegenüber dem «Weissbärtigen Mann» von Tintoretto. Der Museumswärter Irrsigler ist Reger ergeben, quasi sein persönlicher Saaldiener, der auf Wunsch den Bordone-Saal für Reger absperrt. Die beiden sehr unterschiedlichen Menschen sind sich zugetan; Reger unterstützt Irrsigler gelegentlich finanziell und verbringt schon mal einen Nachmittag mit der Irrsigler-Familie, wobei das für Reger eine Tortur ist (die Frau unausstehlich, die Kinder missraten), insbesondere wenn es in den Prater geht.
Wir erfahren das alles von dem mit Reger befreundeten Privatgelehrten Atzbacher, der ganz ausnahmsweise an einem Samstag von Reger ins Museum bestellt worden ist. Er beobachtet vor dem Treffen Reger, der in den «Weissbärtigen Mann» vertieft ist, und Irrsigler, und erinnert sich an frühere Gespräche mit Reger, die im Wesentlichen Monologe Regers sind. Offenbar schreibt Atzbacher seine Beobachtungen und Erinnerungen nieder, die wir jetzt lesen.
Der Alltag, die Menschen sind nichts für Reger. Er «schleicht sich» aus der verhassten Welt in die Kunst, die er jenseits der Welt verortet. Diese Kunst-Metaphysik ist allerdings eine prekäre; wenn man sich in die Kunstwerke vertieft, wenn man sie eindringlich studiert, dann halten auch hochgelobte Gemälde, Musikstücke oder Bücher dem kritischen Blick nicht stand, sie weisen Fehler auf, sind Ausdruck von Hilflosigkeit, so Reger. Nach dem Tod seiner Frau sagen ihm all seine Bücher, sagen ihm auch Kunstwerke nichts mehr. Weniges lässt Reger noch gelten, Schopenhauer oder Novalis, Goya, der «Weissbärtige Mann». Verhasst sind ihm insbesondere Stifter, Bruckner, Mahler, Klimt, Heidegger, wobei die Kritik selten über allgemeine Urteile wie «Kitsch» oder «sentimental» hinausgeht.
Zappenduster sieht es in Regers Welt also aus, erst recht, seit seine geliebte Frau verstorben ist (wir erfahren gnädigerweise nicht zu viel über diese Ehe – es reicht uns die Mitteilung, dass Reger seine Frau zu jahrelanger nächtlicher Kant-Lektüre, nun, sagen wir, angehalten hat). Warum trägt das Buch dennoch und zurecht den Untertitel «Komödie»?
Reger reflektiert selbst, warum er sich so gern in Rage redet. Er kann nicht in der Bewunderung verharren, sonst «kommt» er «nicht weiter»; er muss alles und jeden denunzieren, nur so kann er existieren. Das Beschimpfen, das Lächerlichmachen ist quasi Regers Natur gemäss; er zelebriert seinen Furor, für den jeder Anlass gerade recht kommt. Bei allem Grimm und Groll hat Reger jedoch eine weiche, den Menschen zugewandte Seite, besonders wenn sie pünktlich sind oder gut angezogen. Reger sitzt am liebsten allein auf der Bordone-Bank, versunken in seine Studien (er blättert dort auch gern in Büchern) oder den Tintoretto. Zweimal muss er widerwillig die Bank mit jemandem teilen, beide Male ist er höchst angetan von den Begegnungen, die von einiger Komik sind. Eine Frau starrt eine Stunde lange den «Weissbärtigen Mann» an, endlich ringt sich Reger zur Frage durch, ob ihr das Gemälde gefalle. «Nein», lautet die lapidare Antwort. Wenig später heiraten die beiden. Bei der zweiten Begegnung reicht schon ein «Duftwasser», um Reger dem Eindringling, einem «Engländer aus Wales», gewogen zu machen. – Reger tut sich schwer, seine Zuneigung zu zeigen, oder seinen Wunsch nach Nähe. Er braucht mehrere Stunden an diesem Samstag im Bordone-Saal, bis er sich überwindet, Atzbacher zu sagen, warum er ihn ausser aller Regel um ein Treffen gebeten hat – ein komödiantischer Tanz.
Thomas Bernhard zeigt sich in seinem zuletzt geschriebenen Prosastück als souveräner, nur gelegentlich etwas zu routinierter alter Meister der Tiradenkunst, die sich beim genauen Lesen durchaus gelegentlich als nuanciert und ambivalent in den Urteilen entpuppt – sogar «der hundsgemeine Österreicher» hat eine interessante, faszinierende Seite.
Das Wiener Kunsthistorische Museum stellt in einem Youtube-Film den «Weissbärtigen Mann» vor, natürlich mit Verweis auf die «Alten Meister»:
https://www.khm.at/objektdb/detail/1569/