Besprechung für Als lebten wir in einem barmherzigen Land
Hauptfigur des Romans ist Anna, Grundschullehrerin, mit einer Vergangenheit als linke Aktivistin in einem Artistenkollektiv, UnRule OrKestrA, das beispielsweise die Edinburgher Fussgängerzone mit anarchischen Inszenierungen aufmischte. Über die Zeit wird das OrKestrA zunehmend in politische Auseinandersetzung verwickelt und offenbar so bedeutend, dass die Polizei beschliesst, einen Spitzel ins Kollektiv einzuschleusen, Buster, der seine Rolle sehr gut spielt. Anna verliebt sich in ihn.
Über die Jahre setzt eine grosse Verdüsterung ein im Land, die kulminiert in Pandemie, Lockdown und Machtmissbrauch der Regierung. Anna lebt zusammen mit ihrem Sohn Paul, den sie liebt, und ihrem Partner Francis, den sie liebt. Sie zieht sich in ihren Kokon zurück, während draussen Unsicherheit, Willkür und Gewalt herrschen.
Anna erzählt die Geschichte aus der Ich-Perspektive. Sie hat mit zwei Traumata zu kämpfen; als junge Frau ist sie vergewaltigt worden (wie sich spät im Roman herausstellt), und sie hat sich von Buster täuschen lassen. Aus seiner Perspektive war die Liebesgeschichte einfach Teil des Spitzelplans.
Oder doch nicht?
Jahre nach der Affäre sendet Buster Anna Manuskripte zu, die sie uns Lesern, wenn auch widerstrebend, zumutet. Wir haben also einen zweiten Ich-Erzähler in diesem Roman. Kennedy brilliert hier, indem sie zwei sehr unterschiedliche Stile vorführt: der warme, mäandernde, zweifelnde Ton der stets nach dem Guten strebenden Anna, und die klinisch-kalte Analyse des Killers Buster, der seine Anpassungsfähigkeit an seine Opfer demonstriert und preist. Der Ex-Cop und Ex-Spitzel hat sich nämlich zu einem Mörder ausbilden lassen, auf verworrene Art scheint das ein idealistisches Unterfangen zu sein, vielleicht auch eine Kompensation für seine Zeit als Cop und Spitzel? Es fällt jedenfalls auf, dass er und Anna ähnlich abfällig über die Polizei und den Staat reden. Busters Opfer sind reiche, sadistische Männer, die Frauen sexuell missbrauchen. Busters Geschichten tragen zum zunehmend düsteren Grundton bei, und Buster ist das Musterbeispiel eines «Stilzchens», wie Anna die Vertreter der herrschenden Klasse gern nennt – Frauenfeinde, Unterdrücker, Manipulatoren. Aber es leuchtet erzählökonomisch nicht ein, warum Buster so viel Raum einnimmt. Und am Ende interessiert es den Leser genauso wenig wie Anna, warum er ihr diese Manuskripte zugeschickt hat und wie er sich zu erklären sucht.
Der Roman vermittelt den Eindruck, etwas aus dem Ruder gelaufen zu sein, zwei Erzählungen in einer zu sein. Und allzu sehr steht die wenig differenzierte, offenbar drängende politische Botschaft im Vordergrund – hier Annas heile, private Welt der Liebe, dort der böse Staat, der mit Manipulation und Unterdrückung arbeitet. Ein missglückter Roman einer Autorin, die schon eine Reihe hervorragender Bücher geschrieben hat.