Abschnitt 7.5 „Wer muss die Erklärungslücke schließen?“
GK setzt sich noch einmal mit Einwänden gegen das libertarische Weiterüberlegen-Argument auseinander. Der Einwand geht in die Richtung, dass am Ende keine Kriterien benannt werden können, die das Weiterüberlegen in einer gegebenen Situation erklären.
Auffällig ist, dass GK sich hier ausschließlich mit Positionen aus der Vereinbarkeitsmatrix (siehe Einführungskapitel) auseinandersetzt, vor allem mit deterministischen Kompatibilisten und agnostischen oder Zweifach-Kompatibilisten, aber auch mit Inkompatibilisten. Tenor ist: Wenn man dem Libertarier eine Erklärungslücke vorwirft, dann haben die anderen sie auch. Dies zeigt das Dilemma, dass alle der aufgezeigten Positionen mit gewissen Schwächen zu kämpfen haben, so dass es am Ende nur darum geht, was plausibel erscheint, und nicht darum, was wahr ist.
Grundsätzlich gäbe es noch eine andere mögliche Sicht, die in der Vereinbarkeitsmatrix gar nicht vorkommt: Man kann konzedieren, dass Menschen sich als frei erfahren und sich selbst eine Willensfreiheit zuschreiben, aber gleichzeitig der Meinung sein, dass wir keine Aussage darüber machen können, ob wir wirklich frei sind oder nicht. Alle Positionen in GKs Vereinbarkeitsmatrix erheben dagegen den – für mich metaphysisch anmutenden – Anspruch, etwas darüber zu sagen, ob wir frei sind oder nicht. Dass wir uns lediglich als frei erfahren und wir darüber hinaus keine Aussage machen können, ist als mögliche Positionierung nicht vorgesehen.
Wäre das aber nicht die Position des epistemischen Indeterministen, wie sie GK auf Seite 91f. als Spielform des Kompatibilismus beschreibt? Ich nehme aus subjektiver Perspektive wahr, dass ich meinen Willen walten lassen kann. Zugleich weiss ich nicht, ob es nicht doch eine deterministisches Supergesetz gibt. Aber das ist für meinen Alltag irrelevant, weil ich jeden Tag Entscheide treffen muss.
Wenn ich Dehaene richtig interpretiere, siehe Anmerkung weiter oben, dann zieht er sich auf diesen Gesichtspunkt zurück. Es gibt eine bewusste Auseinandersetzung mit einer Sache, es gibt einen Entscheid – das ist Willensfreiheit. Wieviel Rationalität oder Irrationalität am Entscheidungsprozess beteiligt ist, ist irrelevant. Es ist ein bewusster, freier Willensentscheid. Ob der Entscheidungsweg prädeterminiert ist, spielt keine Rolle, weil ich mich im Moment der Entscheidung frei fühle. Und nach Dehaene kann das selbe für einen Roboter gelten, was vermutlich für den Libertarier eine zusätzliche Provokation wäre.
Ja, Du hast recht, die in meiner Anmerkung skizzierte Position kommt dem epistemischen Indeterminsmus nahe. Insbesondere die Zitate, die GK bringt, beschreiben schon ganz gut, was ich meine, z.B. Planck: „Von außen, objektiv, betrachtet, ist der Wille kausal determiniert, subjektiv betrachtet, ist der Wille frei.“ oder Pothast, der gesagt hat, „dass einer Person, die vor einer Entscheidung steht, unter normalen Bedingungen ihre Sicht der offenen Wahl nicht bestritten werden kann.“
Ich störe mich ein wenig am Begriff des „epistemischen Indeterminismus“ und würde es lieber „epistemischer Agnostizismus“ nennen. Wichtig ist aus meiner Sicht der Aspekt der Subjektivität: Keiner bestreitet ernsthaft, dass wir uns und unsere Mitmenschen als frei erfahren. Zumindest tun wir so, als wären wir und andere frei, und diese Sicht ist fest in uns verwurzelt. Ich würde meinen, wir können gar nicht anders, als uns und unsere Mitmenschen als frei zu erfahren. Wir wissen natürlich um optische und andere Täuschungen oder um Experimente, in denen Versuchspersonen davon überzeugt waren, sie hätten etwas initiiert, und dann aber einsehen mussten, dass sie sich das alles nur eingebildet haben – trotzdem tut das unserem Freiheitsverständnis keinen Abbruch. Das sagt nicht, dass wir frei sind, nur, dass wir uns als frei erfahren. Und dies in einer Art und Weise, dass wir am Ende ganze Gesellschafts- und Rechtssysteme auf dieser Erfahrung aufbauen. Das zeigt, wie verwurzelt diese Erfahrung ist, vielleicht sogar, wie unhintergehbar sie ist (wobei wir das nur behaupten und nicht beweisen können).
Ich würde auch nicht so sehr mit der Unvorhersehbarkeit argumentieren, wie es bei GK auf S. 91f. getan wird (das Argument ist ja sinngemäß, wir können unsere eigenen Entscheidungen nicht vorhersehen, daher können wir uns frei fühlen).Natürlich ist die Unvorhersehbarkeit ein notwendiges Kriterium, denn wenn alles vorhersehbar wäre, dann bleibt dem Subjekt, dem Akteur nichts mehr übrig, was es beisteuern könnte. Dann passieren die Dinge eben einfach. Handlungen wären dann nichts als Verläufe.
Mich stört glaube ich die Attitüde, mit der behauptet wird, wie Dinge sind. Ich würde mich manchmal lieber mit der Aussage begnügen, dass wir nicht wissen, wie die Dinge wirklich sind. Am Ende geht es um nicht mehr als Plausibilität: Wie plausibel erscheint mir eine bestimmte Sicht auf die Dinge. Gerade, wenn es um subjektive Aspekte geht, ist aus meiner Sicht größte Vorsicht geboten. GKs Theorie des Weiterüberlegens ist für mich streng genommen nicht mehr als eine wilde Spekulation, die ihrerseits auch nicht ohne metaphysische Annahmen auskommt und die für sich nicht mehr „modale Kraft der Notwendigkeit“ beanspruchen kann als andere Theorien auch, zumal wir subjektive Empfindungen eben nicht objektiv fassen können. Wir können sie nicht vermessen, wir können sie nicht in mathematischde Formeln pressen oder auch nur eine physikalische Theorie für sie formulieren, weil uns dafür die Begrifflischkeiten fehlen (ich kann da nicht mit den klassischen physikalischen Einheiten wie Meter, Sekunde, Kilogramm, Volt, Ampere kommen). Wir können fleißig Theorien über mentale Vorgänge aufstellen, und sie mögen uns plausibel erscheinen – mehr aber auch nicht.
Vermutlich meine ich einfach nur, dass man verbal etwas abrüsten und etwas mehr Demut zeigen sollte in dem, was man behauptet. Wir wissen nicht, was wahr ist, aber wir können für die Plausibilität einer Sicht argumentieren.Daher würde ich manchmal die Begriffe“richtig“ und „falsch“ oder „wahr“ und „unwahr“ durch „angemessen“ oder „nicht angemessen“ ersetzen wollen. GK schreibt ja selber am Anfang sinngemäß, dass er durchblicken lässt, welche Auffassung er für die „richtige“ hält. Da hat er einen Wahrheits (oder Richtigkeits-)-Anspruch, den ich nicht habe.