Besprechung für Wellness
«Wellness» ist ein überaus ambitionierter Roman: Er lotet die Abgründe einer Ehe aus, und blickt weit zurück in die Familiengeschichte seiner Figuren. Über viele Seiten schildert er technologisch und psychologisch plausibel, wie Facebook einen User manipuliert. Er zeichnet ein Portrait des zwischen Hipness und Bigotterie schwankenden Chicagoer Vorstadtlebens im frühen 21. Jahrhundert. Er informiert uns – auf wissenschaftlichem Niveau – über psychologische Studien rund um die Placebo-Effekte, die einem nur für sich genommen viel Stoff zum Nachdenken geben. Und das ist längst nicht alles.
Im Mittelpunkt von «Wellness» steht die Geschichte des Paars Elizabeth und Jack, vom märchenhaften, verliebten Beginn als Studenten zum zähen, drögen Familienalltag Jahrzehnte später. Die beiden haben einen Sohn Toby, um den sich Elizabeth exzessiv und mit wissenschaftlichen Methoden kümmert, der aber trotz aller state of the art – Massnahmen nicht nach ihren Vorstellungen gedeihen will; sein Interesse scheint fast ausschliesslich dem Videospiel «Minecraft» zu gelten. Sie versteht viel von Psychologie: sie leitet die Institution «Wellness», die sich der Erforschung und später der Ausnutzung von Placebo-Effekten widmet. Jack hat sich in einer akademischen Nische eingerichtet. Er hatte aus eher kunstfernen Umständen heraus seinen ganz eigenen Photographiestil entwickelt, den er mit der gerade angesagten postmodernen Theorie unangreifbar gemacht hatte. Jetzt aber gerät er – unter einem neuen, an McKinsey orientierten Chief Financial Officer der Universität – massiv unter Druck. Er weist nämlich von allen Dozenten den schwächsten Impact in den social medias aus.
Wie es sich für eine ausgewachsene midlife crisis gehört, bröckelt das Fundament an allen Ecken und Enden. Elizabeth entzieht sich Jack zusehends, sie langweilen die vorhersehbaren Manöver, mit denen er um ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung buhlt. Sexuelle Bedürfnisse leben sie bevorzugt getrennt aus, er hat eine Neigung zur Pornographie, sie hat einen Vibrator. Der lange schwelende Konflikt explodiert in einem hervorragend inszenierten, wüsten Krach in ihrem zukünftigen «forever home», einer Eigentumswohnung, deren Fertigstellung aber zunehmend in Frage steht. Beide müssen sich auch den verdrängten Dämonen ihrer Herkunftsfamilien stellen. Es ist eindrücklich, mit welcher Energie der Autor diese Dimension zum Leben seiner Protagonisten hinzufügt und nahtlos mit der Gegenwartsebene verschweisst.
«Wellness» leuchtet viele relevante Aspekte des zeitgenössischen Lebens einer Mittelklassen-Familie aus. Die einzelnen Episoden sind handwerklich brillant gebaut, die Pointen sind souverän und mit exzellentem Timing gesetzt. Die Exkurse, zu so diversen Themen wie der Prärie des Mittleren Westens oder der Verbreitung von Verschwörungstheorien, wirken gut recherchiert und gekonnt aufbereitet. Man lernt viel in diesem Roman.
Zuweilen geht allerdings die Demonstration des Wissens quasi zulasten der Figuren. Nathan Hill nutzt Elizabeth und Jack, um an ihnen exemplarisch gesellschaftliche Trends durchzuexerzieren. Jack ist seinem wearable, das allerlei Körpersignale aufzeichnet, hörig. Elizabeth, die Wissenschaftlerin, folgt stets den neuesten Erkenntnissen, ist Spezialistin für Manipulation und Selbsttäuschung, aber scheitert grandios dabei, ihr Wissen für den eigenen Alltag zu nutzen. Die Figuren mutieren hier eher zu Karikaturen, während der Autor ihnen sonst durchaus Eigenleben und Tiefenschärfe verleiht.
Aber das mindert nur wenig die Attraktivität dieses unbedingt lesenswerten Roman, der ganz zum Schluss, nach vielen dunklen Kapiteln, zu einem vorsichtig optimistischen Ausblick für die Ehe von Elizabeth und Jack findet.