Besprechung für Aare
Ein Jahr lang begleiten wir einen Fährmann bei seiner Arbeit. Unzählige Male führt Daniel, oder auf gut berndeutsch Dänu, die Bodenackerfähre von der Muri- auf die Wabernseite über die Aare, und natürlich zurück.
Unzählige Male? Nun, dieser Fährmann ist auch ein Statistiker. Das Logbuch verzeichnet, wie es sich gehört, viele Zahlen rund um den Fährbetrieb; es sind pro Jahr rund 37’000 Fahrgäste, die die Fähre nutzen. Temperaturen, Abflussmengen, Wasserstand, alles wird uns zuverlässig mitgeteilt. Manchmal geht der Statistikfuror mit dem Autor durch, und er stellt Bestenlisten der Schlauchboot-Typen auf oder er quantifiziert das Fotographie-Verhalten der Fahrgäste auf der Aare. Wohldosierter Einsatz von Nonsense in Anbetracht von Phänomenen, denen der Fährmann ausgesetzt ist.
Es sind also rund 100 Fahrgäste, die pro Tag im Schnitt übergesetzt werden. Die Fahrt dauert nur wenig länger als eine Minute, und doch ist es ein spezieller Moment, in dem man sich quasi in die Hand des Fährmanns begibt. Es scheint, als läge stets eine leichte Anspannung in der Luft. Die Gäste gehen damit ganz unterschiedlich um: sie versinken in Schweigen, sie flirten mit dem Fährmann, sie plappern in einem fort mit dem Hund, sie fragen recht häufig, was denn der Fährmann tun würde, wenn das Drahtseil reisst. In Gruppen gibt es die Sprücheklopfer. Wir lesen, dass der Fährmann die Überfahrt verzögern oder beschleunigen kann. Es gibt auch unangenehme Zeitgenossen, die Daniel so rasch wie möglich wieder loswerden will.
Wir lernen die «Dauergäste» kennen, die immer wieder zur Fähre kommen, und eine Art Beziehung zum Fährmann aufbauen, der sie vermisst, wenn sie länger nicht erscheinen. Sie erzählen Dänu in Bruchstücken aus ihrem Leben, er erkennt, wenn es ihnen nicht so gut geht.
Der Fährmann übt einen Handwerksberuf aus: wir lernen, wie das Drahtseil je nach Wasserstand verkürzt oder verlängert wird, wie die Anlegemanöver auch dann gelingen, wenn es nur noch wenig Wasser hat; wie die Fähre gewartet werden muss. Geld kassieren, Tickets ausgeben und abknipsen, Hilfe beim Ein- und Aussteigen anbieten.
An schönen Sommer-Wochenenden ist der Fährmann im Dauerstress, unkontrolliert aareabwärts treibende Schlauchboote, an beiden Flussufern Warteschlangen, die Hitze. Er entwickelt Strategien, damit umzugehen. An regnerischen Tagen muss Daniel dagegen damit klarkommen, dass kaum ein Kunde erscheint; auch das kann anstrengend sein.
Dann hat der Fährmann viel Zeit, den Aare-Kosmos zu erkunden: der Zaunkönig wohnt hier, im Frühling nistet sich ein Hausrotschwanz im Giebel des Fährhäuschens ein, nachdem ihn Daniel aus prekärer Lager befreit hatte, manchmal flitzt ein Eisvogel vorbei, häufiger macht sich die Wasseramsel bemerkbar. Die Farbe der Aare ist ein endlos faszinierendes Thema, dem der Autor mehrere, zunehmend ins Phantastische driftende Passagen widmet.
Der Fährmann ist dauernd exponiert, Wind, Sonne, Regen, Launen und Stimmungen der Fahrgäste, alles kommt ihm nah, es gibt keinen Rückzugsraum. Daniel versteht es, sich im richtigen Moment abzuschirmen und dennoch stets die Sinne offen zu halten. So kommt die reiche Logbuch-Ernte zustande, Dialogfetzen der Fahrgäste, Wetter, Tiere, Reflexionen des Fährmanns, Miniatur-Portraits, kleine Komödien und Tragödien des Alltags. Aufgelockert wird der Rapport über das Tagesgeschehen durch historische oder mythologische Exkurse, und allerlei nicht ganz ernst gemeinte Aufzählungen und Listen. Diese Mischung und die unprätentiöse, sorgfältige Sprache machen das Logbuch des Fährmanns zu einer unterhaltsamen, vielseitigen Lektüre.