Besprechung für Zeilen und Tage III
Sloterdijks «datierte Notizen», wie er sie nennt, decken den Zeitraum 2013 – 2016 ab. Er reflektiert das Tagesgeschehen, insbesondere die schlagzeilenträchtigen Ereignisse, wie zum Beispiel die Anschläge in Paris (Hebdo; Bataclan), Brüssel oder München. Seine Reflexionen dazu sind nicht verkehrt, aber man liest sie nach Jahr und Tag ohne grossen Erkenntnisgewinn. Am Ende erreicht Sloterdijk nicht viel mehr als das, was er den Medien vorwirft: als Echokammern den Terroristen zu einer grösseren Resonanz zu verhelfen.
Dagegen sind die Portraits von Politikern wie Putin, Erdogan oder Trump pointiert und treffsicher. Es bewährt sich, dass Sloterdijk sich auf die Mechanismen konzentriert, die diese Figuren antreiben, ohne sich zu sehr um das Tagesgezänk zu kümmern.
Wenig ausgegoren, um nicht zu sagen borniert, wirken seine gelegentlichen anti-etatistischen und elitistischen Rundumschläge. Am glücklichsten wären die happy few ohne Steuerlast und Störung.
Sloterdijk beschäftigen neben den politischen naturgemäss auch philosophische Themen. Er arbeitet sich ab an der Frankfurter Schule, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet, er liest Leibniz oder Schelling, oder bezieht sich (meist kritisch) auf Heidegger. Nietzsche ist sein Gewährsmann in manchen Lebenslagen.
Seine weitgespannten Interessen lassen den Philosophen auch in Berührung kommen mit Schriftstellern wie Roberto Bolaño und David Foster Wallace, für die er – anders als das Feuilleton jener Jahre – keinen Enthusiasmus aufbringen kann, oder mit Michel Houellebecq. Die eher negative Rezeption seines eigenen Romans „Das Schelling-Projekt“ schlägt sich nieder, insbesondere eine „Spiegel-Infamie“ gibt ihm zu schreiben.
«Zeilen und Tage» gibt aber auch knapp dosierte Einblicke ins Private, Sloterdijk ist verliebt in seine spätere (vierte) Frau Beatrice, man erfährt von einer verunglückten Jahresend-Familienfeier, oder von der Krankheit und Tod von Freunden.
Häufig ist Sloterdijk unterwegs, er ist ein Handelsreisender in Sachen Sinn und Reflexion, hält Reden und tritt auf Podien auf. Von Karlsruhe aus bereist er die Welt. Der überwache Geist leidet an den Phänomenen des Hotel-Alltags, und teilt gern aus gegen störende Gäste. Die Idiosynkrasien nimmt man als Leser hin, die Empfindsamkeit ist einfach die Kehrseite der Phantasie-Spannkraft, die den eigentlichen Reiz der Tagebücher ausmachen. Wenn Sloterdijk das «Assoziationsvolumen» eines anderen Autoren lobt, dann ist das auch pro domo geredet. Er stellt überraschende Zusammenhänge her, er erkennt beispielsweise in der Fleischindustrie einen Agenten der «Entlastung» zu «Ungunsten nicht-humaner Grössen», und definiert Entlastung als «Meta-Droge». Diese Höhenflüge, gern auch ausgehend von Statistiken, sind unterhaltsam und erhellend.