Besprechung für Long Island
Die Irin Eilis hat in den USA den Italiener Tony aus einer grossen, ebenfalls eingewanderten Sippe geheiratet. Nach vielen Jahren gerät ihre Ehe in eine schwere Krise, sie wird zunehmend zur Aussenseiterin in der Grossfamilie. Sie sucht vorübergehend Zuflucht in ihrer alten Heimat und lässt Long Island hinter sich.
Jetzt taucht der Leser tief ein in das südostirische Kleinstadtleben der 1970er Jahre, mit Pubs, Priestern und klatschfreudigen Nachbarn. Gelegentliche Ausflüge in die Hauptstadt Dublin erlauben es den Bewohnern, einen Hauch Mondänität und vielleicht auch mal ein modisch geschnittenes Kleid zu ergattern. Die «Amerikanerin» hat ein anderes Selbstbewusstsein als die Einheimischen, aber Eilis muss sich ihren Platz bei der zunächst eher abweisenden Mutter erst wieder erkämpfen. Den Draht zu ihrer ehemals besten Freundin Nancy findet sie nicht so recht. Dafür flammt die alte Liebe zum Pubbesitzer Jim bald wieder auf.
Jim und Nancy verpassen es beide, Eilis in das Geheimnis ihrer bevorstehenden Verlobung einzuweihen. Der Plot wird wesentlich von dieser verpassten Kommunikation vorangetrieben; gekonnt lässt der Autor die Situation eskalieren. Wir erhalten Einblick in die Gefühlswelt der Hauptfiguren, ihre Überlegungen und Zweifel, interessanterweise im Finale eher weniger bei Eilis, die so selbstbewusster und unabhängiger erscheint.
Toíbín schildert das Pub-Leben, Familienquerelen oder eine Hochzeitsfeier, die etwas aus dem Ruder läuft. Etwas gar klischeehaft bewegen sich die halbwüchsigen Kinder Eilis’, die ihr – ohne Papa Tony – nachgereist sind für eine Geburtstagsfeier, in der für sie neuen irischen Verwandtschaft. Sohn Larry zieht mit dem Onkel durch die Pubs, Tochter Rosella freundet sich rasch mit ihrer Grossmutter an.
«Long Island» ist auch ein empathisches Porträt der irischen Provinz vor einem halben Jahrhundert. Der Roman arbeitet mit traditionellen, vielleicht auch etwas konventionellen Stilmitteln. Aber der Autor verleiht seinen Hauptfiguren Glaubwürdigkeit und Tiefenschärfe, und die Geschichte entwickelt einen Sog, dem sich der Leser kaum entziehen kann.