Besprechung für Borodino
Bindschädler ist zum ersten Mal in Amrain, dem Wohnort seines Freundes Baur. Mehr als zwei Jahre sind vergangen, seit sie sich gesehen haben, auf ihrem Spaziergang durch Olten, von dem im ersten Band der Tetralogie «Toteninsel» erzählt wird.
Wir befinden uns zu Beginn von «Borodino» im Haus der Baurs, wo Kaspar Baur von einem Jubiläumstreffen der Gebirgsfüsilierkompanie berichtet, der Baur und Bindschädler zur Zeit der Mobilmachung im Zweiten Weltkrieg angehörten. Bindschädler, der wiederum als Erzähler agiert, spinnt das Militärthema weiter, die Schlacht von Borodino respektive die Tolstois Schilderung davon in «Krieg und Frieden» wird in diesen Band immer wieder zitiert.
Nach dem Mittagessen machen sich die Freunde auf den Weg zum Kindermaskenumzug. Beiläufig erfahren wir, dass Baurs Frau Katharina auch mit von der Partie ist. Recht unvermittelt erhält der Fasnachtsumzug eine ungeahnte Dimension: Der «Abbruch der Zeit» wird mit verhindert durch das Auftreten der Kindermasken. Es ist ein Markenzeichen dieser Prosa, die Ebenen zu wechseln, aus dem Details ins Ganze, Metaphysische auszubrechen, aus dem Leben in die Kunst, aus der Gegenwart in die Vergangenheit. An dieser Stelle vielleicht etwas schwach unterfüttert. Aber insgesamt verschafft der Autor sich die Legitimation dazu durch kühne Sprachbilder und Gedankengänge, die aus den Alltagsbeobachtungen herauswachsen.
Die Freunde folgen dem Umzug, es ist aber zugleich eine Führung durch Amrain: wer wohnte in diesem Haus, wer benutzt häufig jenen Weg? Bäume, Blumen, Tier haben ihren gewichtigen Ort in den Erzählungen Baurs.
Bindschädler übernachtet bei Baurs; auch abends und nachts, allein, reflektiert Bindschädler die Erzählungen Baurs, betrachtet eingehend ein Familienfoto. Er ist der ideale, aufmerksame Empfänger der Amrainiaden Baurs. Periodisch schweifen Bindschädlers Gedanken ab, in den Osten, nicht nur in die Zeit der Napoleonischen Kriege. Der Afghanistan-Einfall der Sowjets ist ein Thema, die Geschichte ist wohl im März 1980 angesiedelt.
Am nächsten Morgen, offensichtlich einem Sonntag, begeben sich die Freunde in die Kirche. Langes Zitat aus der Predigt des Pfarrers, die Schöpfungsgeschichte. Anschliessend Gang über den Friedhof, wieder Gelegenheit der Toten zu gedenken, Baurs Mutter, seiner Schwester Julia, die zuletzt dement war und unter einer grossen Krebsrose litt, die ihr Gesicht entstellte. Während Baurs dies berichtet, beobachtet Bindschädler einen Bussard über Amrain, hängt dann wieder in Gedanken Tolstois Einschätzung der Schlacht von Borodino nach. Auf dem Weg zurück zu den Baurs wird die Führung durch Amrain fortgesetzt, Baur erzählt von Cousins, von Möbelhändlern und Sattlern. Er erinnert den Besuch in einem Bauernhaus, an einem Sonntagnachmittag, sein Spiel auf einem verstimmten Klavier:
«’Ich umgab diesen Klang mit zwei, drei weiteren Klängen, in einer Abfolge. Diese verfingen sich in Topfpflanzen, Vorhängen, Nippsachen. Das ergab dann quasi das Klangbild der Welt.’» Ein weiteres Beispiel wie Baurs Assoziationskünste den Weg vom Unscheinbaren zum Essentiellen schaffen.
Katharina tischt ein typisch schweizerisches Sonntagmittagsmenü auf, Flädlisuppe, Kartoffelstock, Braten. Baur liest vor aus der Ansprache des Indianerhäuptling Seattle, ein Buch, das populär war in den 1980er Jahren in ökologisch orientierten Milieus. Der Zeitgeist lässt sich auch erkennen, wenn auf das Waldsterben angespielt wird, oder Baur meint, dass es bald keine Eierpilze mehr gibt. Nach einer Mittagspause, in der Bindschädler wieder Tolstois «Krieg und Frieden» nachhängt, einen Bildband Caspar David Friedrichs anschaut und Baurs Berichte vom Jubiläumstreffen der Kompanie reflektiert, hören die Freunde zum Abschluss die 4. Sinfonie Schostakowitschs, die in der Tetralogie immer wieder zitiert wird. Auch jetzt wieder wandern Bindschädlers Gedanken zu Tolstoi und nach Russland. Kaspar und Katharina Baur begleiten Bindschädler zum Bahnhof. Baur erzählt von einem Besuch beim Plastiker Oscar Wiggli. Bindschädler nimmt den «Siebzehnuhrzug».
Es ereignet sich auch in diesem Band nichts Aussergewöhnliches, die Fasnacht spielt im Hintergrund, sie gibt zwar Anlass für die eine oder andere Überlegung, aber Baur und Bindschädler sind Zuschauer, nicht Akteure. Das Wochenende der Freunde verläuft in bürgerlich-biederem dörflichen Rahmen. In Kontrast dazu stehen die Dialoge der Freunde, die sich einen weiten Gedankenraum schaffen, worin aber die Schwerfälligkeit, die Faktizität des Dorflebens nicht etwa bei Seite geschoben, sondern mit aufgehoben ist.