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Besprechung für Menschenwerk

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Besprechung:

Der 15-jährige Dong-Ho ist auf der Suche nach seinem gleichaltrigen Freund. Eben noch waren sei gemeinsam unterwegs gewesen. Jeong-Dae ging voraus, es schien, als hätte ihn eine Abenteuerlust gepackt, die Straßen sind voller Demonstranten, es gibt Gerüchte, dass Soldaten im Anmarsch sind, um den anschwellenden Massenprotesten Einhalt zu gebieten. Dann hat er ihn verloren. Dong-Ho sucht in der Turnhalle nahe dem Regierungsgebäude, wo immer neue Tote herangekarrt werden.  Diese werden dort von jungen Studentinnen gewaschen und, soweit es geht, hergerichtet, damit sie aufgebahrt und identifiziert werden können und damit Angehörige Abschied von ihnen nehmen können.

Dong-Hos Mutter und einer seiner älteren Brüder drängen ihn noch, endlich nach Hause zu kommen, aber er lässt sich nicht überreden. Im Gegenteil, er lässt sich sogar von den Anführern der Proteste einspannen und führt akribisch Buch über die immer neuen Toten, für die man kaum noch einen freien Platz findet.

Die Massenproteste und deren brutale Niederschlagung im südkoreanischen Gwangju im Jahre 1980 sind der Dreh- und Angelpunkt im Roman von Han Kang. Viele sind zu Tode gekommen, und die Überlebenden sind auch Jahrzehnte danach noch gezeichnet von den Ereignissen. Einige von ihnen werden verhört, gefoltert, inhaftiert, noch viele Jahre später wütet die Zensurbehörde, indem sie große Teile von Berichten, Büchern und Theaterstücken, die auf die eine oder andere Weise an Gwangju erinnern, geschwärzt. Auch nach Jahrzehnten werden Menschen noch auf entwürdigende Weise drangsaliert, um sie zur Denunziation von vermeintlichen Feinden des Regimes zu zwingen.

Die Geschichte – oder die Geschichten – werden aus verschiedenen Perspektiven erzählt, ohne dass immer gleich klar wird, wessen Perspektive es ist. Es ergreifen verschiedene Ichs das Wort, aber auch das Du und das Sie sind sehr präsent, indem die erzählende Person scheinbar zu der Protagonistin oder dem Protagonisten spricht. Selbst die Toten kommen in Form ihrer Seelen zu Wort, sie rätseln genauso über die Vorgänge in der Welt, streifen umher, versuchen sich ein Reim auf die Dinge zu machen, sie scheinen das Menschsein fortzusetzen, wenn auch ohne jede Leiblichkeit.

Der Roman ist immer sehr nah bei seinen Figuren, ihrem Alltag, ihrer Innenwelt, ihren Fragen, ihrer Rat- und Hilflosigkeit, ihren Träumen und Traumata, ihrem Gewissen und ihrem Stolz, ihrer Angst und ihrer Wut. Dabei wird der Leser nach und nach vertrauter mit den Personen, deren Vorgeschichte sich in vielen Rückblenden nach und nach entfaltet, so dass ein Bild entsteht, dessen Konturen an Klarheit gewinnen. Es gibt viele Sprünge in der Zeit, die aber jeweils mit großer Leichtigkeit, geradezu wie selbstverständlich vonstattengehen und sich geschmeidig in den Lesefluss einfügen

Die Sprache ist einfach, präzise, gelegentlich geradezu verstörend nüchtern, genau beobachtend, jede Regung wahrnehmend, aber immer nahe bei den Menschen, und sie folgt ganz unaufgeregt den Protagonisten auf ihren Wegen, in ihren Gedankengängen, in dem, wie sie sich selbst, die Welt und andere Menschen wahrnehmen und nicht aufgeben, das Mysterium der menschlichen Natur zu ergründen. Oder sie schaut den Menschen dabei zu, wie sie einfach nur überleben

Die Beschreibung der Ereignisse ist schonungslos, es ist viel von Toten, deren Entstellung, von Blut und Verwesung, von Dreck und Gestank die Rede, aber dennoch hat die Sprache nichts Grobes, sie bleibt immer in ihrem ruhigen Fahrwasser, als wäre sie eine Leitschnur, an der man sich immer weiter entlanghangeln kann und die einen immer daran erinnert, dass es das auch noch gibt: das Normale, das Einfache, das Menschliche.

Einige Szenen sind besonders stark, etwa die Beschreibung einer Theateraufführung, von der große Teile der Zensur zum Opfer gefallen sind und die daher über weite Strecken aus Schweigen und tonlosen Mundbewegungen besteht, aber dadurch nur um so eindrücklicher wirkt.

Das Buch geht unter die Haut. Es findet trotz der grausamen Ereignisse und der sinnlosen Gewalt, wo hier alles seinen Anfang nimmt, stets eine erstaunliche Balance zwischen dem Gewalttätigen, Finsteren und Bösen und dem, was die Menschen am Leben erhält.

Menschenwerk ist ein Meisterwerk.

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