Besprechung für Die Ballade vom Schneien
Wir befinden uns in einem Spitalzimmer in Amrain; erzählt wird die Sterbenacht Baurs, von Bindschädler, der die letzten Stunden mit seinem Freund verbringt: erzählend, sinnierend, schlafend, träumend; Champagner trinkend.
Getaktet wird die Nacht durch das (stündliche?) Erscheinen der Nachtschwester, der wir als Leser allerdings immer nur gerade begegnen, wenn sie das Sterbezimmer wieder verlässt. Periodisch begibt sich Bindschädler auf den zum Zimmer gehörenden Balkon, wischt den in der Zwischenzeit gefallenen Schnee vom Geländer, sieht in die Amrainer Nacht hinaus.
Das Dorfleben ist in diesem Band etwas weniger präsent als in den anderen der Tetralogie «Baur und Bindschädler». Im Vordergrund stehen Literatur, Malerei, Musik, Erinnerungen an Reisen.
Auf dem Nachttisch des Sterbezimmers findet sich ein Bücherstapel, zuoberst Prousts «Im Schatten junger Mädchenblüte», darunter «Das Gras» von Claude Simon, dann Robert Walsers «Jakob von Gunten». Zuunterst die Bibel. Die Reihenfolge ist nicht beliebig. An der Wand hängt eine Reproduktion von Caspar David Friedrichs «Eiche im Schnee», zu der der Blick der Freunde immer wieder schweift.
Das Sterben Baurs wird nicht explizit thematisiert, aber der Tod ist durchgängiges Thema in diesem Band. Die beiden Freunde reden nicht vom bevorstehenden Abschied, und doch sind die Dialoge, die Gedanken davon durchdrungen. Die Dringlichkeit macht sich auch in der Konzentration bemerkbar, die sich der sterbende Baur und der von Müdigkeit geplagte Bindschädler abringen.
Die Gedankengänge führen weit weg, in das Russland Tolstois, nach Vermont, den Reisen entlang, die Baur unternommen hat, nach Paris oder Venedig. Dennoch bleibt auch dieser Band in Amrain verwurzelt.
Baur entwirft eine Poetologie, Proust paraphrasierend: «Es komme auf die erstmalige neue Schau einer an sich bekannten Sache an, auf eine Ansicht, die sich von der gewohnten unterscheide, eigenartig und neu, aber dennoch wahr und gerade deshalb doppelt ergreifend sei, weil sie uns ins Staunen versetze, aus unserem alten Geleise werfe und uns gleichzeitig an einen erinnerten Eindruck gemahne.» Es gilt, die «bekannte Sache», das Amrainer Dorfleben, neu zu sehen; und an die Welt (und die Kunst) anzubinden.
Gegen Ende der Erzählung, gegen Ende der Nacht die Erinnerung an die Reise nach Israel, auf den Spuren von Jesus. Bindschädler liest eine lange Passage aus der Bergpredigt, sowie den Psalm 104. In dieses biblisch-christliche Umfeld, das für Baur (und Bindschädler) wichtig ist, plaziert der Autor etwas unvermittelt, aber umso auffälliger, die Geschichte von der Metamorphose des Schmetterlings (ein weiteres wichtiges Motiv in der Tetralogie), und damit der (kreatürlichen) Wiederauferstehung.
Bindschädler erinnert einen Satz Baurs aus der «Toteninsel», dem ersten der vier Bände: «Ich dachte an den Rundgang in Olten, wo Baur gesagt hatte, es sei vermutlich so, dass Gott letztlich nicht die Liebe sei, sondern das Licht.» In einer letzten Geste streckt Baur die Hand vor, als blende ihn Licht. Bindschädler tritt auf den Balkon, und sieht den Tag heraufziehen. Er hat Baur in den Tod begleitet.
«Die Ballade vom Schneien» ist karg möbliert, es gibt kaum eine Handlung, die Geschichte spielt in einem Zimmer. Die Erzählung konzentriert sich auf den Austausch von Baur und Bindschädler, alles andere wird ausgeblendet. Es mutet etwas unwahrscheinlich an, dass die Familie Kaspar Baurs in dieser letzten Nacht nicht präsent ist. Aber dieses Konstrukt ermöglicht es dem Autor, eine Dichte und Intensität zu erreichen, die den Band zum Höhepunkt der Tetralogie macht.