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Besprechung für Fluchtnovelle

Moritz T. Keine Kommentare
Besprechung:

Zwei junge Menschen verlieben sich ineinander, beide studieren, aber sie kommen aus unterschiedlichen Welten: Sie lebt in der DDR, er in der Schweiz. Kennengelernt hatten sie sich Mitte der 1960er Jahre auf einer Reise in Erfurt, bald sucht er dauerhaft ihre Nähe: Während eines Auslandsemesters in Westberlin immatrikuliert er sich auch an der Ostberliner Humboldt-Universität, und kann so seine Freundin häufig besuchen.

Der Student unternimmt alle möglichen Versuche, sie auf legalem Weg in die Schweiz zu bringen. Dabei kommt er in West- und Ostberlin auch in Kontakt mit den späterhin in verschiedener Hinsicht prominenten Rechtsanwälten Horst Mahler und Wolfgang Vogel. Vogel zeigt ihm die einzige legale Möglichkeit auf: Er kann seine Freundin gegen DM 50’000.- aus der DDR freikaufen. Über das Geld verfügt der Student nicht, und so ersinnt das Paar einen raffinierten Fluchtplan via Prag. Der Plan, bei dem ein aufwendig gefälschter Einreisestempel in einem Pass mit falschem Foto eine wichtige Rolle gespielt hätte, zerschlägt sich. Aber Plan B funktioniert. Das ist spannend erzählt, mit einer Ästhetik der Knappheit, die diese Novelle prägt, mit atmosphärisch dichten Schlaglichtern. Bevor die Freundin in Prag ankommt, erlebt der Schweizer Student eine kafkaesk anmutende Irrfahrt, die in einer Bierhalle endet, wo die Männer nur eins tun: schweigend Bier trinken, eins nach dem anderen.

Diese «unerhörte Begebenheit» hat sich tatsächlich ereignet: Es ist die Geschichte der Eltern des Autors, für die sich 1975 schon ein anderer Schweizer Autor interessiert hatte. Hermann Burger hatte die Eltern Strässles interviewt und das Gespräch auf eine Tonbandkassette aufgenommen, das Strässle transkribiert und in die Novelle eingebaut hat. Diese Kapitel sind von grossem Reiz – sie wirken und sind authentisch, mit der schon einsetzenden Unschärfe der Erinnerung an die Flucht und ihre Vor- und Nachgeschichte.

Die protokollartige Nüchternheit und Ökonomie sind Stärken dieser Erzählung. Die kommentarlos wiedergegebenen Gesetzestexte mit den Sanktionen für die «Republikflucht» evozieren von allein die verquere Logik und bedrückende Atmosphäre des untergegangenen «realsozialistischen» Staats. Ein halber Satz deutet auf Abgründe hin, die sich dann die Lesenden selbst ausmalen können: Als die Flucht geschafft und das Paar in der Schweiz gelangt ist, wird es von der Familie des Studenten nicht etwa mit offenen Armen empfangen. Die konservativ-katholischen Eltern streichen aus Enttäuschung über die Partnerwahl des Sohns die finanzielle Unterstützung.

Vor allem die junge ostdeutsche Frau musste eine existenzielle Entscheidung treffen: Nach der Flucht gab es kein Zurück mehr für sie, und im Fall des Misslingens drohte ihr Gefängnis. Es war ihr auch bewusst, dass der Weggang ihre alleinstehende Mutter, die sie vernünftigerweise nicht in die Pläne einweihte, schwer treffen würde. Sie entschied sich dennoch für diesen Schritt ins Unbekannte, der Liebe folgend. Berührend zu lesen, wie ihr Sohn hier davon erzählt.

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