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Besprechung für Migration

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Besprechung:

In Gesellschaft, Politik und Medien ist Migration in vielen Ländern seit Langem ein sehr präsentes und kontrovers diskutiertes Thema. Der niederländische Migrationsforscher Hein de Haas richtet sich mit seinem Buch mit dem Titel „Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt“ an die breite Öffentlichkeit. Sein erklärter Anspruch ist, tief verankerten Vorurteilen entgegenzutreten. Zu diesem Zweck beschreibt er in jedem der 22 Kapitel genau einen Mythos, z.B. „Die Migration bricht alle Rekorde“, „Zuwanderung bringt mehr Verbrechen“ oder „Zuwanderung lässt sich durch Beschränkungen verringern.“, um dann darzulegen, was wirklich dahintersteckt.

Das Buch folgt damit einem durchgängigen Konstruktionsprinzip, bei dem der Leser an keiner Stelle verloren gehen kann. Dabei hilft, dass die Sprache überaus klar und flüssig ist. Der Autor ergeht sich an keiner Stelle in komplizierten akademischen Formulierungen und kommt gänzlich ohne soziologisches Fachchinesisch aus.

Die Thesen lassen sich trotz der ausladenden 450 Seiten (ohne Anmerkungen und Register) erstaunlich prägnant zusammenfassen: De Haas begreift Migration als ein komplexes Phänomen mit einer langen Geschichte. Sie sei in früheren Zeiten viel höher gewesen als heute. Auch gebe es in den heutigen Gesellschaften anstelle einer wachsenden Vielfalt eher einen Homogenisierungstrend, der mit einer zunehmenden Skepsis gegenüber Migration einhergehe.

Schon lange Zeit machten die Migranten weltweit recht konstant nur etwa 3% der Bevölkerung aus. Überdies seien davon über 80% lediglich Binnenmigranten, von den restlichen 20% komme ein Großteil in einem Nachbarland unter. Das Phänomen der Migration sei viel kleiner als gemeinhin angenommen.

Es werde meist übersehen, dass die entwickelten Gesellschaften zwingend auf Migranten als Arbeitskräfte angewiesen seien. Positive Nebeneffekte seien dabei etwa die Zahlung von Steuern und Sozialabgaben sowie Überweisungen in die Herkunftsländer, die mit Abstand die effizienteste Entwicklungshilfe seien.

Migranten würden ihre Migration oft akribisch vorbereiten und seien gut über das Zielland informiert. Sie würden sehr planvoll und zielgerichtet vorgehen, seien sehr leidensfähig und engagiert. In der Regel würden sie auf eine schnelle Rückkehr in ihre Heimatländer dringen.

Es sei insbesondere ein Mythos, Migration würde die Kriminalität erhöhen, die Sozialkassen oder die Bildungseinrichtungen belasten, die Arbeitslosigkeit erhöhen oder die Löhne drücken. Das Gegenteil sei der Fall.

Es sei meist kontraproduktiv, Migration mit Einzelmaßnahmen steuern zu wollen. So sei es sinnlos, Zugangs- oder Aufenthaltsbeschränkungen zu verhängen, man solle besser alle Grenzen öffnen, zumal dann auch die Suche nach Schlupflöchern und etwa das Schleusertum wegfallen würden.

Man muss de Haas zugestehen, dass er klare Kante zeigt. Er nennt Ross und Reiter, und für ihn ist klar, wer die Schuldigen sind, wenn es um Probleme im Zusammenhang mit Migration geht: Es sind die Politik der Zielländer, die Wirtschaft, die Medien, die Deregulierung der Märkte, die Schwächung der Gewerkschaften, der Verlust an Arbeitsplatzsicherheit und die Beschneidung von Arbeitnehmerrechten.

De Haas unterlegt seine Thesen mit vielen Studien und Zahlen. Dabei kommt es in der Tat immer wieder zu Aha-Erlebnissen. Allerdings wechselt de Haas oft zwischen einer globalen und einer regionalen Perspektive und flicht zahlreiche Beispiele aus vielen Ländern ein, was es erschwert, ein rundes, aussagekräftiges Gesamtbild zu bekommen. Gelegentlich verheddert er sich vollständig in den Zahlen: So sagt er an einer Stelle, Migranten würden jährlich rund 500 Mrd Dollar an ihre Heimatländer überweisen, an anderer Stelle behauptet er, diese Überweisungen würden nur 0,7% des BIP der betreffenden Länder ausmachen. Wäre das korrekt, würden Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen etwa 70% der globalen Wirtschaftsleistung auf sich vereinen, was etwa um den Faktor 10 zu hoch gegriffen ist. Solche Fehler sollte sich ein gestandener Wissenschaftler nicht erlauben.  An anderer Stelle vergleicht er die Anzahl der Migranten, die zwischen 1846 und 1924 Europa verlassen haben, mit der europäischen Bevölkerung von 1900. Das Ergebnis ist 12%. Leider lässt er den Leser bei der Beurteilung allein, ob das für einen Zeitraum von knapp 80 Jahren viel oder wenig ist. Überdies bleibt unklar, was der Vergleich eines langen Zeitraums mit einer Kennzahl zu einem definierten Zeitpunkt bezweckt. Er mutet willkürlich an.

Das Bemühen, die Migration in einem besseren Licht erscheinen zu lassen, ist unverkennbar. Natürlich ist es gut möglich, dass Migration gemeinhin viel kritischer gesehen wird als es angemessen wäre. Dies sollte man dann aber gezielt zahlenmäßig belegen. Wenn de Haas etwa schreibt, einige Migranten würden natürlich auch enttäuscht und ihre Entscheidung bereuen, dann wäre eine Abschätzung hilfreich, wie viele es denn sind, insbesondere nachdem er so viel Aufwand getrieben hat zu zeigen, wie planvoll und informiert Migranten in der Regel vorgehen würden. Jedoch Fehlanzeige: Hier bleibt es dann bei einer bloßen unbelegten Aussage.

Auch wenn de Haas schreibt, dass selbst aus Sicht der illegalen Migranten die Migration eine vernünftige Entscheidung sei, es sich bei den meisten Migranten um eine bewusste Entscheidung und nicht um eine Verzweiflungstat handle und die Migration als eine Investition in die Zukunft gesehen werde, wäre eine wichtige Frage, wie realistisch die ursprünglichen Erwartungen seitens der Migranten wirklich waren, und wie viele es sind, die die Hürden auf dem Weg ins Zielland und im Zielland selbst massiv unterschätzt haben. Dass es nicht einfach ist, eine solche Zahl zu erheben, dürfte klar sein, dies sollte aber einen nicht davon befreien, diese Frage aufzuwerfen.

Wenn es um Rezepte geht, ist de Haas klar und unmissverständlich: „Ein klarer Weg zur Staatsbürgerschaft … ist die mit Abstand beste Integrationsförderung. Solange der Staat die Migranten arbeiten lässt, ihre Rechte schützt und Wege zur dauerhaften Aufenthaltsberechtigung und Staatsbürgerschaft aufzeigt, integrieren sie sich ganz von selbst.“ Hier gibt es keine Differenzierung und keine Limitierung. Die Frage danach, ob ein Land oder eine Region mit der Aufnahme von Migranten oberhalb eines bestimmten Levels überfordert sein könnte, scheint sich zu keinem Zeitpunkt zu stellen.

In gleicher Weise wird de Haas nicht müde, Menschenschmuggler als Dienstleister darzustellen, die vom Grenzschutz gezwungen worden seien, andere Routen zu wählen und nichts anderes täten, Migranten vor den Kriminellen und ihren Komplizen bei der Polizei zu schützen. In diesem Zusammenhang versteigt sich de Haas zu der verwegenen Formulierung: „Zwischen den Behauptungen der Gegner des Menschenhandels und der Realität tut sich ein Abgrund auf.“ An Menschenhandel gibt es für de Haas offenbar nichts auszusetzen.

Im gesamten Buch wimmelt es von markigen, plakativen, polemischen, pauschalen und streckenweise pamphletartigen Formulierungen. Schon im Vorwort und in der Einleitung spricht de Haas unverhohlen von den Politikern und den Medien, die die „Fakten ignorieren“, die „Wahrheit bewusst verzerren“, uns dies und das „weismachen“ und uns mit „Parolen“ überschütten würden. Man kommt kaum umhin, hier ein hohes Maß an Frustration und Resignation zu diagnostizieren.

Es entbehrt nicht jeder Ironie, dass de Haas einfache Erklärungen und direkte Kausalzusammenhänge anprangert, wenn es um angemessene Beschreibungen und Erklärungen für Migration geht, wenn er aber auf die wahren Schuldigen zu sprechen kommt, hält er sich nicht lange mit Differenzierungen auf.

Es steht leider zu befürchten, dass das Buch von de Haas keinen Beitrag leisten wird, Migrationsskeptiker von ihrem Weg abzubringen. In der Einleitung schreibt de Haas von seinem Anspruch, eine ideologiefreie Darstellung zu liefern. Wenn das Buch eines nicht ist, dann ist es ideologiefrei.

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