A Swim in a Pond in the Rain
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Besprechung
Moritz T.
Kapitel „In the Cart“
Saunders pausiert die Lektüre vor der letzten Seite der Geschichte, und fragt sich und den Leser, warum es sich bis zu diesem Punkt noch nicht um eine „story“ handelt; etwas fehlt. Man kann ihm zustimmen, ein Ende jetzt würde den Leser etwas ratlos zurücklassen; so funktionieren traditionelle sehr kurze Geschichten, auf der letzten Seite gibt es eine Auflösung, eine Pointe.
Saunders handelt von der Ökonomie der Erzählung; ein neuer Abschnitt muss die Geschichte voranbringen, und er muss in sich selbst unterhaltsam sein. Das leuchtet ein, ist allerdings auch nicht besonders aufregend und vielleicht auch etwas konservativ. Er erfindet dafür den Namen „Cornfeld Principle“ (nach einem Drehbuch-Autor, der ihm diese Regel erschlossen hat).
Und jedes Element, das eingeführt wird, hat eine Funktion in der Erzählung. Warum erfahren wir, dass Marya in der Kutsche Einkäufe mit sich führt, die ihr bei einem Manöver des Kutschers auf schwer passierbarem Weg auf die Füsse fallen? Damit sie später nass werden können, wenn der Kutscher in einem weiteren waghalsigen Manöver einen Fluss duchquert (und damit die Mühseligkeit von Maryas Unterfangen in diesem Provinzleben illustriert).
Konzentriert sich Saunders vielleicht etwas stark auf den Plot, und wie Chekhov auf die Identifikation des Lesers mit der Schulmeisterin Maryas und ihrer Einsamkeit abzielt?
Immerhin verweilt Saunders auch bei einzelnen Szenen, etwa als im Teehaus mit (mit dem Akkordeon im Hintergrund) die Stimmung der mehr wodka- als teetrinkenden Bauern gegen die Schulmeisterin zu kippen droht, die aus ihrer Sicht zu viel verdient. Er erwähnt hier nicht die herrliche Parade der Bauern, die sich dann doch höflich einzeln von Marya verabschieden und rausgehen. Das neunmalige Klappern der Tür veranschaulicht, dass ihr Kutscher sich schwer getan hätte, Marya zu verteidigen.
Am Ende der Geschichte bringt ein leuchtender Zug Maryas Moskauer Vergangenheit in die Provinz, und für einen Moment entfacht er ein inneres Feuer der in ihrem drögen Alltag gefangenen Schulmeisterin. Lapidar holen aber der Kutscher und der Bahnwärter Marya in die Gegenwart zurück, als der Zug passiert hat.
Jetzt, zeigt uns Saunders, ist die Story komplett, das weitere Schicksal Maryas beschäftigt uns – Saunders skizziert verschiedene, mehr oder minder trostlose Szenarien. Chekhov hat uns eine Lektion der Einsamkeit erteilt; und er hat die Geschichte lebendig werden lassen, mit Zeit- und Raumgefühl.
Lektüre erste Seite „In the cart“
Etwas arg didaktischer Auftakt, mit dem der Kommentar der ersten Seite der Cechov-Kurzgeschichte einsetzt. Und überzeichnet Saunders hier nicht ein wenig das Unglücklichsein der Heldin Marya Vasilyevna, soweit es sich aus der ersten Seite erschliessen lässt? Monotonie, Langeweile, kein Sensorium für die Naturschönheiten, mangelnde Vorstellungskraft für ein anderes Leben. Aber summiert sich das zum Unglücklichsein?
„That self-interruption is a beautiful thing.“
Marya, immer noch in der Kutsche, unterbricht ihren Gedankenstrom über mühselige administrative Schulangelegenheiten, und stellt für sich unvermittelt fest, dass Hanov attraktiv ist. Es ist ein auffälliger Moment in der Geschichte, Saunders analysiert ihn gekonnt. Marya beschäftigte sich mit der Schule, aber vermutlich ist ihr Blick gleichzeitig dem Landbesitzer gefolgt, der in einer anderen Kutsche vor ihr in dieselbe Richtung fährt.
„Then, as if he’s just heard Marya ruling out their marriage, Hanov rides right out of the story.“
Hübsche Beobachtung (auch wenn Hanov natürlich später zurückkehrt). Die Geschichte schien kurz in Richtung einer Romanze zwischen der einsamen Marya und Hanov zu zielen, aber – nein. Saunders vernachlässigt in seiner Analyse einen Satz, der die Einsamkeit Maryas zu einer grundsätzlichen macht: „Fundamentally, life was so arranged and human relations were complicated so utterly beyond understanding that when you thought about it you were terrified and your heart sank.“, p. 29. Wie können Menschen, Paare überhaupt zusammenkommen? Chekhovs Thema.
Kapitel „The Singers“
Zwei Männer in einer ärmlichen Kneipe, in einem trostlosen Dorf, treten zu einem Gesangswettbewerb an. Die beiden beanspruchen für einige Minuten die volle Aufmerksamkeit der Zuhörer, die ihre Sorgen vergessen.
Der erste Sänger brilliert mit Finessen und Verzierungen, der zweite aber, zu Beginn nervös und ungeschickt, von der Sangestechnik her dem Konkurrenten unterlegen, zieht das Publikum auf einer emotionalen Ebene in den Bann; er gewinnt.
Saunders pickt in der Analyse eine auffällige Stelle heraus: endlich nähert sich der Plot nach immerhin acht Seiten, die dem Leser Geduld abverlangen, dem Wettbewerb, da unterbricht der Erzähler sich selbst und unterbreitet den Lesern eine langfädige Beschreibung der Männer in der Kneipe. Irritierend, diese Frustration des Lesers, aber auch von leiser Komik.
Saunders Lesart läuft nun auf die Pointe hinaus, dass „The Singers“ erzähltechnisch einige Mängel aufweist, genauso wie die Sangeskünste des zweiten Sängers, aber das Publikum mit erzählerischer Hingabe doch für sich gewinnt. Holpriger Aufbau, langfädige Beschreibungen, der Plot wird viel zu lange nicht vorangetrieben, aber am Schluss wird der Leser von der Geschichte doch gepackt. Interessante Überlegungen Saunders, die in der offenen Frage mündet, ob Turgenjew die Mängel bewusst platziert hat, um quasi die Botschaft zu duplizieren, dass Hingabe wichtiger ist als technische Perfektion.
„And yet, it was beautiful, what just happened in that pub, and needed. Something lovely in these people rose to the occasion.
And overflowing with loveliness, they got totally wasted.“
Wir befinden uns in einer armseligen Dorfkneipe in Turgenjews „The singers“; der Gesangswettbewerb lässt die vom Leben gezeichneten Figuren in eine Welt der Schönheit eintauchen. Am Ende blickt der Ich-Erzähler von aussen nochmals in die Kneipe; alle scheinen masslos betrunken. Saunders argumentiert hier, dass sie – berührt von der Schönheit der (Gesangs-) Kunst – dem Alkohol in besonderem Masse zugesprochen haben.
„The ravine, we might say, ‚unlocks‘ all of the binary references that are, we now see, seeded within the story.“
Zu Beginn von „The singers“ wird eine „schreckliche Schlucht“ beschrieben, die mitten durch das „arme, kleine“ Dorf führt. Welche Funktion hat die prominent eingeführte Schlucht in der Geschichte? Sie setzt von Beginn weg den Akzent auf Teilung, Gegensatz, hier und dort, so Saunders. Aber … ist dieser massive Wink mit dem Zaunpfahl notwendig, wie wir die Geschichte zu lesen haben? Man könnte natürlich im Sinn von Saunders argumentieren, dass die Kunst, wie sie im Gesang erlebt wird, die schreckliche Kluft überbrückt, die die Zuhörer sonst auf die eine oder andere Weise trennt. – Vielleicht fühlt sich auch der Ich-Erzähler den anderen Gästen für Momente näher? Er ist offenbar eine ungewohnte Erscheinung, zieht die Aufmerksamkeit der Kinder und das Grollen der Hunde auf sich. Saunders spekuliert, dass er der Aristokratie angehört, und von daher fremd sein muss in dieser Umgebung.
„What does an artist do, mostly? She tweaks that which she’s already done.“
Im Anschluss an die Analyse von „The Singers“ folgt „Afterthought #2“, der sich von der Turgenjew-Geschichte entfernt und auf den kreativen Prozess des Künstlers fokussiert, der in erster Linie im iterativen und intuitiven Überarbeiten von ersten Ansätzen besteht. Die Story will sich in eine Richtung entwickeln, der Künstler muss nur zuhören können. Klingt plausibel, scheint aber keine neue oder auf neuen Wegen entdeckte Erkenntnis.
The Darling
Saunders zeigt mit einer ausgeklügelten Tabelle, wie sich in „The Darling“ Muster wiederholen. Olenka verliebt sich immer wieder in den Nächstbesten, und ist solange aufgehoben in der Welt, bis der Geliebte stirbt oder verschwindet, und sie in Einsamkeit darbt, bis der nächste erscheint.
Er zeigt unsere Empfänglichkeit als Leser für die Wiederholung von Abläufen; wir finden uns in der Welt zurecht. Aber erst die Abweichung bereitet uns Vergnügen. Thema und Variation, oder bei Saunders, pattern and escalation. Saunders argumentiert, dass Chekhov vermutlich nicht nach einem strikten Plan vorgegangen ist, aber dass er als Künstler eben weiss, wie eine Geschichte funktioniert. Hier hätte sich ein kleiner Exkurs zu Beckett angeboten, der Geschichten auf Muster und (minimale) Abweichung reduziert, mit komischem Effekt; diese Grundstruktur ist bei Beckett überbeleuchtet, und dennoch funktionieren seine Geschichte. Beckett stellt die Abhängigkeit der Literatur (und des Lesers) von patterns bloss, er arbeitet explizit damit.
Schön arbeitet Saunders eine letzte escalation heraus, und zeigt damit, dass bei Chekhov jede Zeile zählt. Ganz am Schluss wird von einer Traumäusserung Sashas berichtet, das Objekt der letzten Liebe Olenkas, ein Schulknabe, der bei ihr wohnt. Im Traum fordert er jemanden auf zu verschwinden; auch im Alltag wehrt er die überbordende Liebe Olenkas ab, die sich aber davon nicht beeindrucken lässt. Vorher sieht der Leser Olenkas Liebesbedürfnis eher in einem positiven Licht; jetzt scheint sie egoistisch, nicht fähig zu einem Dialog.
Eine interessante Stelle der Geschichte schaut sich Saunders nicht genauer an: Wenn Olenka ohne Liebe ist, dann ist sie auch ohne Meinung; wenn sie liebt, übernimmt sie die Meinungen der Geliebten. Wir verhalten uns immer zu unserer Umwelt, und entwickeln Meinungen; so stehen wir im Austausch. Olenka reduziert ihre Existenz immer auf ein Minimum, wenn sie ohne Liebe ist. „And how terrible it is not to have any opinions!“ (p. 127)
„Above all, and worst of all, she no longer had any opinions whatsoever (…). And how terrible it is not to have any opinions!“
Olenka ohne einen Mann in ihrem Leben, der sie mit Überzeugungen, mit Meinungen speist.
„Then comes the fateful word ‚But‘, telling us that the story-changing event we’ve been waiting for is upon us (…)“
Saunders arbeitet die entscheidende (erste) Wende in Chekhovs „Darling“-Geschichte heraus; die Nachricht vom Tod von Olenkas Mann Kurkin kündigt sich mit diesem „But“an.
„Suddenly questions arise about the nature of love.“
Saunders macht aus seiner Nacherzählung und Analyse auch eine Story, mit Spannungsaufbau und Lösung. Wenn Olenka erst bedingungslos Kukin zu lieben scheint und seine Ansichten, wie kann es später sein, dass sie Pustovalov und seine (völlig verschiedenen) Ansichten genauso liebt?
Kapitel „Master and Man“
Identifiziert Saunders in der „Darling“-Analyse sich wiederholende Muster als wichtiges Element einer Erzählung, so ist es hier die Kausalität; je mehr eine Geschichte damit aufgeladen ist, desto besser, so argumentiert Saunders. Natürlich soll sich Kausalität nicht nur auf einer banalen Ebene zeigen („weil Vasili gierig nach Besitz ist, riskiert er die gefährliche Schlittenfahrt“). Saunders demonstriert das Prinzip anhand des Schlittenrennens Vasilis mit den betrunkenen Bauern, das Vasili in Übermut versetzt, der wiederum dazu führt, dass er sich erneut verirrt.
Kausalität, oder auch: Stärkung der Plausibilität, in einem umfassenden Sinn also. Dagegen gibt es kaum etwas einzuwenden; vielleicht hätte Saunders darlegen können, dass eine Episode in einer gelungenen Geschichte auch gerade einmal nicht im Dienste der Plot-Kausalität stehen muss; dann erfüllt sie den Zwecke der Ablenkung, der Erweiterung, der Nicht-Kausalität. Aber Saunders ist nicht an ausführlichen Theorien gelegen, er bemüht sich um Eindeutigkeit.
Subtile Analyse des Aufenthalts in Grishkino. Vasili und Nikita geraten mitten in einen schwelenden Familienstreit. Saunders zeigt, wie Vasilis Haltung zu diesem Streit möglicherweise den (fatalen) Entscheid beeinflusst, die Irrfahrt durch den Schnee wieder aufzunehmen, anstatt in Grishkino zu übernachten. Ein weiteres Beispiel für Kausalität, die im Hinterkopf des Lesers seine Wirkung entfaltet.
„Master and Man“ ist eine Geschichte, die den Leser packt, sie ist voller Energie – Saunders beschreibt nuancenreich, warum diese Erzählung so gut funktioniert. Er formuliert am Ende dann aber auch eine Kritik: Der Transformation Vasilis, der sein Leben für seinen Bediensteten opfert, steht die Nicht-Entwicklung Nikitas gegenüber, der sein gleichförmiges Leben nach diesem Abenteuer fortsetzt. Zeigt sich hier ein Klassenvorurteil des Autors? Ist ein verarmter Bauer zu einfältig, sein Leben zu ändern? Bedenkenswerter Einwand. Gewänne die Geschichte entscheidend durch eine symmetrische Veränderung der beiden Helden?
„And when saying this Vasili Andreevich was honestly convinced that he was Nikita’s benefactor (…)“
Der Meister zahlt seinen Untergebenen Nikita schlecht, er beutet ihn aus. Aber er legt das so zurecht, dass er sich selbst als Nikitas Wohltäter erscheint. Nikita spielt das Spiel mit, auch wenn er weiss, dass er betrogen wird.
„Nikita talked to them all, excused himself to the fowls and assured them hew would not disturb them again, rebuked the sheep for being frightened without knowing why, and kept soothing the dog, while he tied up the horse.“
Auf ihrer Irrfahrt durch die Kälte kommen Nikita und sein Herr zum zweiten Mal nach Grishkino; jetzt legen sie einen Aufwärm-Halt bei einem Bauern ein und sorgen für Unruhe bei den Hoftieren, als Nikita das Pferd versorgt. Nikita versucht alle zu beruhigen.
„‚(…) it’s all the same to him whether he lives or dies. What is his life worth?'“
Zunehmend verzweifelt im nächtlichen Sturm will sich Vasili Andreevich mit dem Pferd davon machen; viel Gedanken macht er sich nicht um seinen Bediensteten Nikita, den er seinem Schicksal überlassen will.
„But even when he understood the cause of his terror he could not shake it off.“
Orientierungslos und zunehmend verzweifelt reitet Vasili durch den Schneesturm, als ein lautes Geräusch ihn masslos erschreckt – erst allmählich begreift er, dass es nur das laute Wiehern seines Pferdes war. Aber der Schrecken weicht nicht aus den Gliedern. Brillante Szene. – Der Verstand versucht die Ereignisse zu steuern,. oder sich wenigstens einen Reim darauf zu machen, aber das gelingt im Laufe der Geschichte immer weniger.
The Nose
In der Analyse von „Master and Man“ hatte Saunders gezeigt, dass vermehrte Kausalität oder erhöhte Plausibilität zum Gelingen einer Geschichte beitragen kann. In „The nose“ ist gerade das Fehlen von für uns nachvollziehbaren Plausibilitätsbemühungen die Attraktion. Die Geschehnisse und Handlungen der Protagonisten scheinen alles andere als plausibel. Warum funktioniert die Erzählung trotzdem? Saunders meint, dass Gogol eine tiefere Wahrheit unseres Lebens enthüllt: wir bemühen uns um Logik, Rationalität, Kausalität, die wir nachvollziehen können. In Tat und Wahrheit entziehen sich aber die Geschehnisse meist diesen Zusammenhängen, und das wird uns in „The nose“ vorgeführt. Die Welt des nasenlosen Helden Kovalyov gerät aus den üblichen Kausalitätsfugen. Er tut sich schwer zu begreifen, wie er seiner Nase als state councillor und in Uniform begegnen kann. Aber zugleich hinterfragt er seine Wahrnehmung nicht und fragt sich nicht, ob er unter Halluzinationen leide, oder ob er träume. Er spielt das Spiel der Geschichte mit und versucht eine Nasen-Suchannonce in der Zeitung aufzugeben, auch wenn ihm doch absolut schleierhaft sein muss, wie die mannsgrosse Nase wieder in sein Gesicht passen kann. Zeigt uns die Geschichte also nicht vielmehr, dass unsere Annahmen von Logik und Plausibilität nicht absolut gesetzt werden können, dass andere Welten denkbar sind, in denen andere Gesetze gelten? Und dass man sich – wie eben Kovalyov – schnell mit neuen Massstäben arrangiert, umso etwas wie Normalität aufrecht zu erhalten?
Saunders erkennt in Gogols Erzählung aber einfach auch die Freude am puren Fabulieren, einem Impuls, einem Einfall einfach immer weiter zu folgen. Sowenig man „Freude“ auf Anhieb mit Gogol in Zusammenhang bringt: Man kann sich gut Fabulierlust als Motor für die Erzählung vorstellen, die sich alle möglichen Freiheiten zu nehmen scheint. Wenig erhellend dagegen diesmal der „Afterthought“ über die Freude am Erzählen, der sich allzu weit von „The Nose“ entfernt.
„Since all narration is misnarration, Gogol says, let us misnarrate joyfully.“
Saunders entlarvt den Erzähler in Gogols „Nase“ als unzuverlässig bis dubios. Er unterstellt Gogol, dass er den Erzähler so agieren lässt, weil jede Erzählung eine Verformung ist. Dann kann man das auch richtig auskosten.
„But the higher-order reason is this: we come to feel that the story’s strange logic is not the result of error, is not perverse or facile or random, but is the universe’s true logic – that is the eay things actually work, if only we could see it all clearly.“
Saunders argumentiert: All die merkwürdigen und unlogischen Elemente in Gogols „Nase“ bündeln sich zu einer Kohärenz auf höherer (oder tieferer) Ebene, darum beurteilen wir die Geschichte nicht als misslungen. Saunders nennt Gogol einen „supreme realist“. (p. 297)
„The misunderstanding operative in the larger world is operative within us, right now, even if we’re sitting alone in a quiet room.“
Die Welt bewegt sich in Missverständnissen fort. Gogol zeigt es uns.
Gooseberries
Brillante Analyse Saunders. Chekhovs „Gooseberries“ ist eine reichlich unspektakuläre Geschichte, aber Saunders zeigt, warum sie einen dennoch in Bann zieht. Zentral ist eine Erzählung oder vielmehr Rede Iwans, in der er die Meinung vertritt, dass es nicht zulässig sei, glücklich zu leben, wenn andere ringsum unglücklich sind. Das ist eine starke Meinung, die aber unterminiert wird durch einen Moment der ausgelassenen Freude Iwans beim vorherigen gemeinsamen Baden. Die Meinung scheint vor allem den Wert einer starken Geste zu haben, die aber Iwans zwei Zuhörer eher langweilt; sie hätten in wohliger Stimmung nach dem Bad lieber eine deftige Pointe gehört als eine moralische Predigt. Und Iwans Rücksicht auf die Mitmenschen erstreckt sich nicht auf seinen Jagdfreund Burkin, den er im gemeinsamen Schlafzimmer dem Gestank seiner ungeputzten Tabakpfeife aussetzt, wie Saunders in der Analyse des letzten Abschnitts hervorhebt. Wunderbar, wie dann der Tabakgeruch durch die Nacht und zugleich rückwirkend durch die ganze Erzählung wabert. – Saunders zentraler Befund: Chekhov braucht seine Erzählung nicht als Vehikel für eine bestimmte Weltanschauung oder Meinung, er nutzt sie als Instrument, das Leben zu begreifen. Meinungen spielen eine Rolle, aber sie werden wie hier in Frage gestellt durch Handlungen oder Unterlassungen des Meinungsführers. Das Leben ist zu komplex, um es auf Meinungen reduzieren zu können.
„(…) obviously the happy man is at ease only because the unhappy ones bear their burdens in silence, and if there were not this silence, happiness would be impossible. It is a general hypnosis.“
Etwas überraschende Wendung in der Erzählung Ivans; die Zuhörer hatten in behaglicher Stimmung wohl eher eine hübsche Pointe erwartet.
„(…) he seems to be using the form to move beyond opinions, to destabilize the usual ways we go about formulating them.
If he has a program, it’s being wary of having a program.“
Checkhov unterminiert in „Gooseberries“ die mögliche Verfestigung von Meinungen – das hat Methode, meint Saunders.
Alyosha the Pot
Kurze Erzählung Tolstois. Alyoshas Leben besteht aus Diensteifer und Gehorsam, in einem Übermass, das eine mentale Beeinträchtigung des Helden nahelegt, wie Saunders erörtert. Vielleicht spricht auch der titelgebende (zersprungene) „pot“ dafür? Oder steht das Gefäss ohne Boden dafür, dass Alyosha kein (starkes) Ich ausbilden kann, sondern immer nur für andere da ist?
Alyosha ist zufrieden, wenn er dienen kann. Es gibt nur wenige Momente, in denen seine Gefühle in andere Richtung ausbrechen: als er eine rote Strickjacke ersteht, und – als er mit Erstaunen entdeckt, dass es eine Wertschätzung gibt, die nicht an die Erfüllung von Aufgaben gebunden ist. Die Köchin seines Dienstherrn ist Alyosha zugetan, die Rede ist von Heirat; aber sein Vater treibt ihm die Flausen aus. Kurz darauf stirbt Alyosha, nachdem er sich in Erfüllung seiner Pflicht verletzt hatte. Im Sterben widerfährt ihm etwas, das ihn wieder in Erstaunen versetzt. Was das ist, erfährt der Leser nicht. Saunders erörtert mögliche Gründe des Erstaunens, und zeigt, wie die Geschichte entscheidend gewinnt, wenn sie diesen Punkt offen lässt, vielleicht sogar gegen Tolstois ursprüngliche Intention.
„The problem with this reading is that it lets assholes stay assholes.“
Saunders tut sich schwer mit dem Ende von Tolstois Kurzgeschichte. Was überrascht Alyosha kurz bevor er stirbt? Tolstoi lässt das völlig offen. Naheliegend wäre die Lesart, dass Alyosha ein religiöses Erweckungserlebnis hat. Saunders erinnert den Leser daran, dass es einen anderen Moment des Erstaunens gibt in der Geschichte: als Alyosha erkennt, dass die Köchin ihn liebt, oder wenigstens schätzt. Naheliegend, dass er jetzt die umfassende Liebe Gottes begreift. Aber Saunders tut sich schwer damit, weil die Geschichte dann den Vater oder den merchant, die Alyosha nur ausbeuten, quasi ungeschoren davonkommen lässt.
„So, the artistic bounty of this period wasn’t enough to avert that disaster, and I suppose, in some ways, it might have (must have) actually contributed to it.“
Die Rede ist von den sowjetisch-stalinistischen Gräueltaten. Haben Tolstoi, Chekhov und Co. den Weg zum Gulag bereitet? Haben Sie eine Haltung, eine Mentalität geprägt, die dieses „disaster“ (das Wort scheint nicht ganz angemessen) erst ermöglicht haben? Saunders räumt die Möglichkeit ein.
Er präzisiert dann, was Literatur bewirken kann: „it causes an incremental change in the state of a mind.“, p. 381. Wenn der Schriftsteller einen ganz bestimmten „change“ beabsichtigt, dann handelt es sich weniger um Kunst als um Propaganda. Saunders argumentiert, dass Tolstois künstlerischer Instinkt ihn davor bewahrt hat, „Alyosha the pot“ einfach als Predigt für Demut und Leidensbereitschaft enden zu lassen.
Kunst lässt verschiedene Lesarten zu. Liegt es in der Verantwortung des Autors, wenn die Rezeption die Mehrdeutigkeit leugnet? –