A Swim in a Pond in the Rain

Autor: George Saunders
Untertitel: (In Which Four Russians Give a Master Class on Writing, Reading and Life)
Verlag: Bloomsbury
Genre: Fachbuch
Erscheinungsjahr: 2021
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 9781526624246
Einbandart: Taschenbuch
Seitenzahl: 408
Sprache: English
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Besprechung

Moritz T.

George Saunders führt den Leser durch sieben Erzählungen aus der goldenen Epoche der russischen Literatur. Er zeigt uns, wie und warum die Geschichten funktionieren (bei...
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SEITE: 11 - 57 Moritz T. Keine Kommentare
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Kapitel „In the Cart“

Anmerkung:

Saunders pausiert die Lektüre vor der letzten Seite der Geschichte, und fragt sich und den Leser, warum es sich bis zu diesem Punkt noch nicht um eine „story“ handelt; etwas fehlt. Man kann ihm zustimmen, ein Ende jetzt würde den Leser etwas ratlos zurücklassen; so funktionieren traditionelle sehr kurze Geschichten, auf der letzten Seite gibt es eine Auflösung, eine Pointe.

Saunders handelt von der Ökonomie der Erzählung; ein neuer Abschnitt muss die Geschichte voranbringen, und er muss in sich selbst unterhaltsam sein. Das leuchtet ein, ist allerdings auch nicht besonders aufregend und vielleicht auch etwas konservativ. Er erfindet dafür den Namen „Cornfeld Principle“ (nach einem Drehbuch-Autor, der ihm diese Regel erschlossen hat).

Und jedes Element, das eingeführt wird, hat eine Funktion in der Erzählung.  Warum erfahren wir, dass Marya in der Kutsche Einkäufe mit sich führt, die ihr bei einem Manöver des Kutschers auf schwer passierbarem Weg auf die Füsse fallen? Damit sie später nass werden können, wenn der Kutscher in einem weiteren waghalsigen Manöver einen Fluss duchquert (und damit die Mühseligkeit von Maryas Unterfangen in diesem Provinzleben illustriert).

Konzentriert sich Saunders vielleicht etwas stark auf den Plot, und wie Chekhov auf die Identifikation des Lesers mit der Schulmeisterin Maryas und ihrer Einsamkeit abzielt?

Immerhin verweilt Saunders auch bei einzelnen Szenen, etwa als im Teehaus mit (mit dem Akkordeon im Hintergrund) die Stimmung der mehr wodka- als teetrinkenden Bauern gegen die Schulmeisterin zu kippen droht, die aus ihrer Sicht zu viel verdient. Er erwähnt hier nicht die herrliche Parade der Bauern, die sich dann doch höflich einzeln von Marya verabschieden und rausgehen. Das neunmalige Klappern der Tür veranschaulicht, dass ihr Kutscher sich schwer getan hätte, Marya zu verteidigen.

Am Ende der Geschichte bringt ein leuchtender Zug Maryas Moskauer Vergangenheit in die Provinz, und für einen Moment entfacht er ein inneres Feuer der in ihrem drögen Alltag gefangenen Schulmeisterin. Lapidar holen aber der Kutscher und der Bahnwärter Marya in die Gegenwart zurück, als der Zug passiert hat.

Jetzt, zeigt uns Saunders, ist die Story komplett, das weitere Schicksal Maryas beschäftigt uns – Saunders skizziert verschiedene, mehr oder minder trostlose Szenarien. Chekhov hat uns eine Lektion der Einsamkeit erteilt; und er hat die Geschichte lebendig werden lassen, mit Zeit- und Raumgefühl.

SEITE: 61 - 107 Moritz T. Keine Kommentare
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Kapitel „The Singers“

Anmerkung:

Zwei Männer in einer ärmlichen Kneipe, in einem trostlosen Dorf, treten zu einem Gesangswettbewerb an. Die beiden beanspruchen für einige Minuten die volle Aufmerksamkeit der Zuhörer, die ihre Sorgen vergessen.

Der erste Sänger brilliert mit Finessen und Verzierungen, der zweite aber, zu Beginn nervös und ungeschickt, von der Sangestechnik her dem Konkurrenten unterlegen, zieht das Publikum auf einer emotionalen Ebene in den Bann; er gewinnt.

Saunders pickt in der Analyse eine auffällige Stelle heraus: endlich nähert sich der Plot nach immerhin acht Seiten, die dem Leser Geduld abverlangen, dem Wettbewerb, da unterbricht der Erzähler sich selbst und unterbreitet den Lesern eine langfädige Beschreibung der Männer in der Kneipe. Irritierend, diese Frustration des Lesers, aber auch von leiser Komik.

Saunders Lesart läuft nun auf die Pointe hinaus, dass „The Singers“ erzähltechnisch einige Mängel aufweist, genauso wie die Sangeskünste des zweiten Sängers, aber das Publikum mit erzählerischer Hingabe doch für sich gewinnt. Holpriger Aufbau, langfädige Beschreibungen, der Plot wird viel zu lange nicht vorangetrieben, aber am Schluss wird der Leser von der Geschichte doch gepackt. Interessante Überlegungen Saunders, die in der offenen Frage mündet, ob  Turgenjew die Mängel bewusst platziert hat, um quasi die Botschaft zu duplizieren, dass Hingabe wichtiger ist als technische Perfektion.

 

SEITE: 119 ff. Moritz T. Keine Kommentare
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The Darling

Anmerkung:

Saunders zeigt mit einer ausgeklügelten Tabelle, wie sich in „The Darling“ Muster wiederholen. Olenka verliebt sich immer wieder in den Nächstbesten, und ist solange aufgehoben in der Welt, bis der Geliebte stirbt oder verschwindet, und sie in Einsamkeit darbt, bis der nächste erscheint.

Er zeigt unsere Empfänglichkeit als Leser für die Wiederholung von Abläufen; wir finden uns in der Welt zurecht. Aber erst die Abweichung bereitet uns Vergnügen. Thema und Variation, oder bei Saunders, pattern and escalation. Saunders argumentiert, dass Chekhov vermutlich nicht nach einem strikten Plan vorgegangen ist, aber dass er als Künstler eben weiss, wie eine Geschichte funktioniert. Hier hätte sich ein kleiner Exkurs zu Beckett angeboten, der Geschichten auf Muster und (minimale) Abweichung reduziert, mit komischem Effekt; diese Grundstruktur ist bei Beckett überbeleuchtet, und dennoch funktionieren seine Geschichte. Beckett stellt die Abhängigkeit der Literatur (und des Lesers) von patterns bloss, er arbeitet explizit damit.

Schön arbeitet Saunders eine letzte escalation heraus, und zeigt damit, dass bei Chekhov jede Zeile zählt. Ganz am Schluss wird von einer Traumäusserung Sashas berichtet, das Objekt der letzten Liebe Olenkas, ein Schulknabe, der bei ihr wohnt. Im Traum fordert er jemanden auf zu verschwinden; auch im Alltag wehrt er die überbordende Liebe Olenkas ab, die sich aber davon nicht beeindrucken lässt. Vorher sieht der Leser Olenkas Liebesbedürfnis eher in einem positiven Licht; jetzt scheint sie egoistisch, nicht fähig zu einem Dialog.

Eine interessante Stelle der Geschichte schaut sich Saunders nicht genauer an: Wenn Olenka ohne Liebe ist, dann ist sie auch ohne Meinung; wenn sie liebt, übernimmt sie die Meinungen der Geliebten. Wir verhalten uns immer zu unserer Umwelt, und entwickeln Meinungen; so stehen wir im Austausch. Olenka reduziert ihre Existenz immer auf ein Minimum, wenn sie ohne Liebe ist. „And how terrible it is not to have any opinions!“ (p. 127)

 

SEITE: 163 - 245 Moritz T. Keine Kommentare
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Kapitel „Master and Man“

Anmerkung:

Identifiziert Saunders in der „Darling“-Analyse sich wiederholende Muster als wichtiges Element einer Erzählung, so ist es hier die Kausalität; je mehr eine Geschichte damit aufgeladen ist, desto besser, so argumentiert Saunders. Natürlich soll sich Kausalität nicht nur auf einer banalen Ebene zeigen („weil Vasili gierig nach Besitz ist, riskiert er die gefährliche Schlittenfahrt“).  Saunders demonstriert das Prinzip anhand des Schlittenrennens Vasilis mit den betrunkenen Bauern, das Vasili in Übermut versetzt, der wiederum dazu führt, dass er sich erneut verirrt.

Kausalität, oder auch: Stärkung der Plausibilität, in einem umfassenden Sinn also. Dagegen gibt es kaum etwas einzuwenden; vielleicht hätte Saunders darlegen können, dass eine Episode in einer gelungenen Geschichte auch gerade einmal nicht im Dienste der Plot-Kausalität stehen muss; dann erfüllt sie den Zwecke der Ablenkung, der Erweiterung, der Nicht-Kausalität.  Aber Saunders ist nicht an ausführlichen Theorien gelegen, er bemüht sich um Eindeutigkeit.

Subtile Analyse des Aufenthalts in Grishkino. Vasili und Nikita geraten mitten in einen schwelenden Familienstreit. Saunders zeigt, wie Vasilis Haltung zu diesem Streit möglicherweise den (fatalen) Entscheid beeinflusst, die Irrfahrt durch den Schnee wieder aufzunehmen, anstatt in Grishkino zu übernachten. Ein weiteres Beispiel für Kausalität, die im Hinterkopf des Lesers seine Wirkung entfaltet.

„Master and Man“ ist eine Geschichte, die den Leser packt, sie ist voller Energie – Saunders beschreibt nuancenreich, warum diese Erzählung so gut funktioniert. Er formuliert am Ende dann aber auch eine Kritik: Der Transformation Vasilis, der sein Leben für seinen Bediensteten opfert, steht die Nicht-Entwicklung Nikitas gegenüber, der sein gleichförmiges Leben nach diesem Abenteuer fortsetzt. Zeigt sich hier ein Klassenvorurteil des Autors? Ist ein verarmter Bauer zu einfältig, sein Leben zu ändern? Bedenkenswerter Einwand. Gewänne die Geschichte entscheidend durch eine symmetrische Veränderung der beiden Helden?

 

SEITE: 247-308 Moritz T. Keine Kommentare
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The Nose

Anmerkung:

In der Analyse von „Master and Man“ hatte Saunders gezeigt, dass vermehrte Kausalität oder erhöhte Plausibilität zum Gelingen einer Geschichte beitragen kann. In „The nose“ ist gerade das Fehlen von für uns nachvollziehbaren Plausibilitätsbemühungen die Attraktion. Die Geschehnisse und Handlungen der Protagonisten scheinen alles andere als plausibel. Warum funktioniert die Erzählung trotzdem? Saunders meint, dass Gogol eine tiefere Wahrheit unseres Lebens enthüllt: wir bemühen uns um Logik, Rationalität, Kausalität, die wir nachvollziehen können. In Tat und Wahrheit entziehen sich aber die Geschehnisse meist diesen Zusammenhängen, und das wird uns in „The nose“ vorgeführt. Die Welt des nasenlosen Helden Kovalyov gerät aus den üblichen Kausalitätsfugen. Er tut sich schwer zu begreifen, wie er seiner Nase als state councillor und in Uniform begegnen kann. Aber zugleich hinterfragt er seine Wahrnehmung nicht und fragt sich nicht, ob er unter Halluzinationen leide, oder ob er träume. Er spielt das Spiel der Geschichte mit und versucht eine Nasen-Suchannonce in der Zeitung aufzugeben, auch wenn ihm doch absolut schleierhaft sein muss, wie die mannsgrosse Nase wieder in sein Gesicht passen kann.  Zeigt uns die Geschichte also nicht vielmehr, dass unsere Annahmen von Logik und Plausibilität nicht absolut gesetzt werden können, dass andere Welten denkbar sind, in denen andere Gesetze gelten? Und dass man sich – wie eben Kovalyov – schnell mit neuen Massstäben arrangiert, umso etwas wie Normalität aufrecht zu erhalten?

Saunders erkennt in Gogols Erzählung aber einfach auch die Freude am puren Fabulieren, einem Impuls, einem Einfall einfach immer weiter zu folgen. Sowenig man „Freude“ auf Anhieb mit Gogol in Zusammenhang bringt: Man kann sich gut Fabulierlust als Motor für die Erzählung vorstellen, die sich alle möglichen Freiheiten zu nehmen scheint. Wenig erhellend dagegen diesmal der  „Afterthought“ über die Freude am Erzählen, der sich allzu weit von „The Nose“ entfernt.

SEITE: 309 - 346 Moritz T. Keine Kommentare
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Gooseberries

Anmerkung:

Brillante Analyse Saunders. Chekhovs „Gooseberries“ ist eine reichlich unspektakuläre Geschichte, aber Saunders zeigt, warum sie einen dennoch in Bann zieht. Zentral ist eine Erzählung oder vielmehr Rede Iwans, in der er die Meinung vertritt, dass es nicht zulässig sei, glücklich zu leben, wenn andere ringsum unglücklich sind.  Das ist eine starke Meinung, die aber unterminiert wird durch einen Moment der ausgelassenen Freude Iwans beim vorherigen gemeinsamen Baden. Die Meinung scheint vor allem den Wert einer starken Geste zu haben, die aber Iwans zwei Zuhörer eher langweilt; sie hätten in wohliger Stimmung nach dem Bad lieber eine deftige Pointe gehört als eine moralische Predigt. Und Iwans Rücksicht auf die Mitmenschen erstreckt sich nicht auf seinen Jagdfreund Burkin, den er im gemeinsamen Schlafzimmer dem Gestank seiner ungeputzten Tabakpfeife aussetzt, wie Saunders in der Analyse des letzten Abschnitts hervorhebt. Wunderbar, wie dann der Tabakgeruch durch die Nacht und zugleich rückwirkend durch die ganze Erzählung wabert. – Saunders zentraler Befund: Chekhov braucht seine Erzählung nicht als Vehikel für eine bestimmte Weltanschauung oder Meinung, er nutzt sie als Instrument, das Leben zu begreifen. Meinungen spielen eine Rolle, aber sie werden wie hier in Frage gestellt durch Handlungen oder Unterlassungen des Meinungsführers. Das Leben ist zu komplex, um es auf Meinungen reduzieren zu können.

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