Alles fliesst
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Besprechung
Moritz T.
Andreas Siegenthaler
„‚Das Gesetz ist lebenswidrig und das Leben gesetzeswidrig.'“
Der betrunkene Bauleiter prägnant zum Leben im Sowjet-Kommunismus. Vielleicht würden zynische Theoretiker der Revolution dem gar nicht widersprechen: Umso schlimmer für das Leben, es muss sich halt anpassen.
„Bald würde sich die Waggonwelt zerstreuen. Vergessen wären die Witze, die Gesichter, das Lachen, das zufällig erzählte Schicksal und der zufällig geäusserte Schmerz.“
Zugreisen als eigene Daseinsform im Riesenreich, mit speziellen Geboten und auch Freiheiten, die ausserhalb des Waggons wieder ungültig werden. Vgl auch Schlögels „Sowjetisches Jahrhundert“.
Kapitel 3
Die Stalinzeit im Schnelldurchlauf gespiegelt im Leben des Karrieristen Nikolaj Andrejewitsch, der persönlich nichts gegen Juden hat, aber vom um sich greifenden Antisemitismus profitiert. Er rechnet sich selbst hoch an, dass er mit den verbannten Wissenschaftskollegen im Kontakt bleibt. Überhaupt hält er sich selbst für einen anständigen, ehrbaren Menschen; er verdrängt die Verbrechen der Sowjets, glaubt den offiziellen, abstrusen Begründungen für Todesurteile und Lagerhaft – es ist einfacher so, und man kann sich selbst leicht überzeugen oder sein Gewissen wenigstens beschwichtigen. Mit Stalins Tod lüftet sich der Schleier; verräterisch die Wut auf den Staat, der plötzlich eingesteht, Fehler gemacht zu haben. – Und jetzt kommt sein Vetter Iwan zurück aus jahrzehntelanger Lagerhaft.
„Es war leichter für ihn gewesen, nicht zu zweifeln und dafür zu stimmen, und deshalb hatte er sich selbst vorgemacht, dass er nicht zweifelte.“
Nämlich an Bucharins Schuld 1937. Nikolai Andrejewitsch hatte für die Todesstrafe an Bucharin gestimmt. Nach Stalins Tod geraten die Gewissheiten ins Rutschen, und das eigene Verhalten scheint in neuem, nicht mehr so ehrbarem Licht.
„In der Welt aus Parkettböden, Bücherschränken, Bildern und Deckenleuchtern nahmen sich das dunkle faltige Gesicht, die Wattejacke und die Soldatenstiefel des Mannes aus dem Reich der Lager fremd aus.“
Iwan ist zurück. Das Grauen der Lager, subtil indirekt in Szene gesetzt.
Kapitel 7
Verschiedene Arten von Denunzianten, vier verschiedene Judasse, plakativ, wie sich das für eine Typologie gehört. Zum Schluss ein Plädoyer des fiktiven Verteidigers der fiktiven Denunzianten, niemand ist schuld, der Mensch ist so, wenn schon, müsste man den Staat anklagen. – Das Kapitel fällt etwas ab, im Vergleich zu den Begegnungen Ivans mit seinem Vetter und seinem Petersburger Bekannten Pinegin, in denen die Psychologie des Denunzianten oder auch nur des Mitwissers beiläufig ironisch in Szene gesetzt wird.
«’Wo geholzt wird, fliegen Späne, die Wahrheit der Partei bleibt wahr, sie ist höher als mein Unglück.’ (…) Er war verwirrt, als Iwan Grigorjewitsch zu ihm sagte:
‘Das ist ja das Unglück, dass überhaupt geholzt wird. Wozu den Wald abholzen?’»
Ein «kluger Lagerinsasse» und Iwan im verständnislosen Dialog. Es gab in der Sowjetunion keine Alternative zur Partei, sie war der Rahmen, worin man sich bewegte. Selbst wer unschuldig im Lager landete, misshandelt wurde, tat sich schwer damit, gedanklich diesen Rahmen zu verlassen, sich eine andere Realität vorzustellen.
Kapitel 13
Das Schicksal der Lagerinsassin Maschenka wird in grausamen Details erzählt. Lange hält sie die Hoffnung aufrecht, Tochter Julia und Ehemann Andreij wiederzusehen. – Es geht offenbar (auch) darum zu demonstrieren, dass es den Frauen im Lager nicht besser erging – eher im Gegenteil.
Kapitel 14
Wie leicht angedeutet in vorigen Kapiteln: Iwan und seine Mieterin Anna haben sich verliebt, jetzt schlafen sie miteinander. Das wird hier aber nur sehr knapp geschildert – und dann setzt Anna zu einer „Beichte“ an und erzählt vom grauenvollen Holodomor, dem Hungerkrieg der Sowjets gegen die Ukraine. Eindrückliche Erzählung, aber das Kapitel hat ganz offensichtlich nur die Funktion, einen weiteren Aspekt des stalinistischen Terrors zu beschreiben, der Romanrahmen wird hier quasi gesprengt.
„Der Staat war zum Herrn geworden, das Nationale wurde von der Form zum Inhalt und Kern, es verbannte das Sozialistische in die Hülle, in die Phraseologie, in die Schale, in die äussere Form. Mit tragischer Offensichtlichkeit hatte sich das heilige Gesetz des Lebens aus ihr herausgeschält: Die Freiheit des Menschen steht über allem; es gibt auf der Welt keinen Zweck, dem man die Freiheit des Menschen opfern darf.“
Lässt sich aus dem stalinistischen Terror tatsächlich dieses „heilige Gesetz“ ableiten?
„Das Leben selbst ist ja Freiheit, die Evolution des Lebens ist die Evolution der Freiheit.“
Wieder eine etwas unscharfe Definition oder vielmehr Proklamation. Polemik gegen Engels Satz (und Hegel-Paraphrase): Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. – Wir verstehen schon: In Russland gab es eben keine Entwicklung hin zur Freiheit, und das verstösst gegen ein Grundgesetz des Lebens. Aber es leuchtet auf Anhieb nicht ein, inwieweit Evolution und „Freiheit“ gekoppelt sein sollen.
«All das begriff Iwan Grigorjewitsch manchmal klar, manchmal verschwommen.»
Über dutzende von Seiten haben wir Iwan und überhaupt alle Romanfiguren aus den Augen verloren, vor lauter politisch-philosophischer Abhandlungen über die Unfreiheit in der Sowjetunion. Jetzt taucht er unvermutet wieder auf.