Als lebten wir in einem barmherzigen Land
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Besprechung
Moritz T.
„Wann genau Sie dies lesen, lässt sich nur vermuten. Ich denke aber, ich kann davon ausgehen, dass vieles entsetzlich sein und entsetzlich bleiben oder danach gar noch entsetzlicher werden wird. Angenehmere Umstände werden vielleicht nicht wieder eintreten, weil wir als Spezies einfach nicht überzeugen.“
Inwiefern lässt sich vermuten, wann ich das lesen werde? Der Zeitpunkt liegt von der Autorin aus gesehen sicher in der Zukunft. Und die Zukunft wird nichts besseres in store haben. Der Grund liegt auf der Hand: keine überzeugende Spezies. – Pessimistischer Auftakt.
(Erstes Kapitel)
Etwas verwirrlicher Auftakt. Eine exzentrische Ich-Erzählerin, Grundschullehrerin mit einem Kind (? Paul) und einem Partner (? F.L.), Polemiken gegen die soziale Ungerechtigkeit, eine Anklage gegen die „Orkestra five“, mit denen die Ich-Erzählerin verbandelt scheint. Sie ist Zuschauerin bei dem Prozess, sieht dann aber „ihn“ (mit oder ohne rote Haare) und verfolgt ihn quer durch die Londoner City.
„‚Du weisst doch, ich stehe nicht auf Requisitenkomik.'“
F.L. versucht die Ich-Erzählerin mit einem übelriechenden Kescher einzufangen, er setzt eine Metapher in die Tat um. Die Ich-Erzählerin (und der Leser) vielleicht doch ein bisschen amused.
„Danach kommen bloss noch Sex, Angstattacken und körperlicher Verfall.“
Mit 10 oder 11 Jahren „auf dem Gipfel unseres Lebens“.
Kapitel
Wir lernen das Haus der Ich-Erzählerin kennen, an der Wicklow Street, Kings Cross, London, wo sie Paul grosszieht. Ihr Partner F.L. hat es während der Pandemie auf eine Insel verschlagen. Sie hegen Pläne, dorthin zu ziehen, auch wenn die Ich-Erzählerin an London hängt, trotz Fluglärm, und vielerlei Ängsten.
„Aber es macht keinen Sinn, nihilistisch zu sein, wenn man die Gegenwart auch ganz harmlos aufwerten und sicher von einem Moment zum nächsten schreiten kann, um dann vielleicht auch den nächsten zu erreichen.“
Untergründige Verzweiflung, aufgesetzter Optimismus, – so schaukelt sich die Erzählung fort. Als nächstes will uns die Erzählerin mit einem Scones-Rezept belohnen.
Wir lernen das „UnRule OrKestrA“ kennen.
Blick zurück in die Vergangenheit, als die Ich-Erzählerin Teil des UnRule OrKestrA war, ein Trupp von Strassenkünstlern oder -musikanten, der durch Edinburgh zieht mit einer anarchischen Show, die das Publikum in seinen Bann zieht. Das OrKestrA positioniert sich auch politisch, es kommt zu Konfrontationen mit der Polizei. Wir lernen die Lehrerin Mrs McCormick von einer anderen Seite kennen, sie tritt unter dem sprechenden Namen Annanka Ladystrong auf. Ganz zuletzt stösst Baron Sunday zur Truppe, auch Buster genannt. Die Ich-Erzählerin ist im Besitz von seinen Schriften, und nach Zögern und Warnungen gibt sie im nächsten Kapitel Buster das Wort.
„Irgendetwas in unserem Hirn sehnt sich danach, die Savannen zu durchqueren, mit deiner Gruppe, die über dich wacht; Nahrung zu sammeln und Abenteuer zu erleben und immer eine tröstende Berührung zur Hand zu haben… Man ist da, wo sich Liebe und Überleben treffen.“
Der Mythos der kleinen Sammler- Und Jägergruppe wird hier bemüht, angeblich paradiesische Zeit in der Menschheitsgeschichte. Schön zugespitzt von der Autorin: Liebe und Überleben fallen zusammen. Wie kompliziert ist unser Leben seither geworden.
Manuskript von Baron Sunday alias Buster
Die Erzähltemperatur sinkt um einige Grade, wir sind jetzt nicht mehr in London sondern in New England. Wir folgen dem umsichtigen, klinischen Vorgehen eines Killers, der die Umgebung, durch die er sich bewegt, mit liebevoller Kälte schildert, wenn es so etwas gibt. Er hat einen Sinn für Vogelrufe, und die ästhetischen Aspekte des planvollen Mordens. Er sagt Sätze wie: „Ich hoffe, meine Zeit gut zu nutzen und mich zu bereichern“, nicht mit Geld, sondern mit Wissen und Erlebnissen.
„Ich höre, wie die Verpackung aufgerissen wird, der häusliche, gewöhnliche Klang in unserer Lage unangemessen (…)“
In einer Erzählung aus den Buster-Papieren. Der Ich-Erzähler ist ein Killer; er hat einen reichen Mann getötet, der zwei Sexsklaven gehalten hatte, die der Killer nun unfreiwillig mit dem Auto mitgenommen hat. Man weiss nicht, ob er die Zeuginnen seiner Tat auch beseitigen will. Er händigt den Mädchen einen PowerBar aus. Die Klang-Beobachtung für Kennedys atmosphärisch dichte Prosa typisch.
„Einer meiner Sorgen ist die, dass Paul zu weich ist und dass eine schreckliche Frau ihn verletzen wird, und dann muss ich ihr die Stilzchen-Beine brechen und ihr Stilzchen-Eigentum zerstören und ihr Stilzchen-Haus niederbrennen (…)“
Über viele Seite führt uns die Ich-Erzählerin Dialoge mit ihrem quasi erwachsenen Sohn vor; er und seine Mutter sind in der Pandemie zu einem eingespielten Paar geworden. Sie stehen sich sehr nahe, und die Mama scheint über einen überbordenden Beschützerinstinkt zu verfügen. „Stilzchen“: So wird auch Buster bezeichnet. Feind, Grobian, vielleicht auch jemand, der einem das Herz bricht.
„Ich meine, welche Art von Mensch würde so etwas tun, als wäre er so was von verliebt, nur um einen Transporter voller Menschen zu täuschen, die ihn ohnehin schon mochten und ihm vertrauten? Wozu die Mühe?“
Buster war ein Spion, der offenbar im Regierungsauftrag das OrKestrA unterwandert hat. Die Enttäuschung bei der Ich-Erzählerin geht tief und ist auch eine persönliche.
Buster über Polizisten
Buster, selbst einst Polizist, kennt sich aus in der Psyche der Beamten; er fördert aber wenig mehr zutage als Klischees. „Das Polizeileben lehnt nicht-konformes Leben ab und fördert Rudelhierachien.“ – Vielleicht würde Annanka Ladystrong Polizisten ganz ähnlich charakterisieren?
„Jetzt bin ich mir sicher, dass die gemeinen und schäbigen Stilzchen, die über uns Menschen herrschen, sowohl von der Realität verblüfft auch als hilflos im Griff ihrer Ablenkungen und Leugnungen sind. Sie malen jeden möglichen Teufel an die Wand, um zu sehen, womit sie durchkommen. Sie töten uns, weil wir nicht so sind wie sie, und um sich selbst als etwas Besonderes zu fühlen, verbrämen sie das Ganze mit der Pseudowissenschaft von menschlicher Ausdünnung und genetischer Obsession.“
Puh, etwas schwerfällige Erklärung. Die Ich-Erzählerin zählt auch Buster zu den Stilzchen; sie scheinen die Macht im Land zu haben, und sie scheinen zwar selbst etwas verwirrt zu sein, aber zugleich böse – sie töten andere Menschen aus Motiven, die noch nicht so ganz klar sind.
„Die Schmerzen machen ihr weniger zu schaffen als das Wissen, dass sie nicht zählt und dass ihr die Telefonseelsorge gelegentlich sagt, sie solle sich einfach umbringen.“
Die Ästhetik der Komik ist ein probates Hilfsmittel, für die Ich-Erzählerin und Sohn Paul, die Stan und Ollie oder die Marx Brothers schauen. Aber wahre Komik bietet keinen Eskapismus, sondern öffnet die Augen – auch für das Elend der Obdachlosen um die Ecke.
Kapitel „Vielleicht 2000, Glasgow“
Wieder hat Buster das Wort, ein weiterer Mord, sorgfältig vorbereitet, genau beschrieben. Auch ein kleines Porträt Glasgow, mit sozialkritischen Tönen, die durchaus an die andere Ich-Erzählerin erinnern. Brillant, wie Kennedy aber die Tonalität variiert, hier unterkühlt, klinisch, zynisch, dort emotional, verzweifelt, bitter.
„Das war im Mai 2019, also bevor ich stark vermute, dass die Welt untergegangen ist und alle beschlossen haben, einfach weiterzumachen, ganz egal. Wir sind alle von der höchsten Klippe überhaupt gerannt, und unsere Füsse strampeln tapfer und versuchen, uns irgendwie in der Luft zu halten, der altbewährte Zeichentrick-Trick.“
Anna – für sie gibt es ein Leben vor und (vielleicht) nach der Pandemie.
„Die gegenwärtige Vorstellung von England ist hohes Schlaflosigkeitsvorkommen. Ich schmecke endemisch gewohnheitsmässige Nachtsorgen, was zum Geruch und Geschmack aller gescheiterten Staaten gehört.“
Aus Busters Papieren. Etwas ungelenker Satz, „Vorstellung … ist … Schlaflosigkeitsvorkommen“. Aber brillant der Gedanke, wie sich ein gescheiterter Staat in Sorgen der individuellen Haushalten niederschlägt, die dann wiederum die gemeinsame Atmosphäre belasten. – Könnte der Gedanke (wenn auch in ganz anderem Stil verfasst) nicht auch ein Gedanke Annas sein?
„Aber die Welt wird versuchen, ihn umzubringen, und ich will nicht, dass er geht.“
Paul bereitet sich auf die Uni vor, seine Mutter Anna in Angst.
„‚Ich gehe weg, und ich werde glücklich sein. Du bist es nicht.'“
Anna zu Buster, Verdikt und letzte (?) Worte zwischen den beiden.
„Ich bekam erst Angst, als er weg war und ich zwar nicht tot war, doch die Nichtexistenz mir auf Stirn und Haar gehaucht hatte.“
Spät in der Erzählung der Blick zurück zu einer traumatischen Erfahrung der jungen Anna, einer Vergewaltigung. Ein Ur-Stilzchen – Erlebnis quasi. „Stilzchen“ ist Annas Bezeichnung für Unterdrücker-Figuren, Polizisten, Politiker.