Der Liberalismus verderbe sowohl den Verstand als auch die Seele der russischen Gesellschaft. ‚Er paralysiert das Denken und den Willen, er bringt die Moralvorstellungen durcheinander, er verwandelt den Menschen seiner Natur nach in einen geistigen und moralischen Eunuchen.‘
Kommentar
Baberowski gibt hier eine Aussage des slawophilen Publizisten Iwan Aksakow von 1881 wieder. General Loris-Melikow hatte 1880/81 als Innenminister mit Billigung von Zar Alexander II. einen reformistischen Kurs eingeschlagen, der auf eine konstitutionelle Monarchie nach westlichem Vorbild hinauslief. Das war für die (weitgehend aus Studenten bestehende) nihilistische Untergrund-Bewegung aber zu wenig, zu langsam. Sie eskalierte die Situation, bis hin zur Ermordung des Zaren. Der westlich beeinflusste Liberalismus hatte Sympathien für die Terroristen. Nach dem Tod des Zaren setzte sich die reaktionäre Fraktion am Hof durch, und damit auch eine anti-westliche Stimmung.
Die Sätze muten 140 Jahre später seltsam vertraut an. Unter Putin arbeitet sich Russland immer noch ab an westlich-liberalen (heute auch: woken) Positionen. Dagegen wird eine russisch-traditionelle Weltsicht mobilisiert, etwa in einem Erlass Putins vom November 2022 (vgl die Website der SPD-nahen Friedrich Ebert-Stiftung https://www.ipg-journal.de/regionen/europa/artikel/rolle-rueckwaerts-7355/).
Ein sehr lang-anhaltender, scheinbar unversöhnlicher Kulturkampf. Schon unter Peter dem Grossen orientierte sich Russland am Westen, sah sich aber zugleich in Konkurrenz zu ihm. Über vielerlei Wandlungen in der russischen und europäischen Geschichte hinweg hält Russland diesen Antagonismus bis heute aufrecht, und sieht die eigene Identität durch westliche Einflüsse bedroht.